Folge 2/11: Kurztrip ins Land der Vergessenden

Mein Neurologe anno 2000:

„Wir haben Halsmarkläsionen bei Ihnen gefunden!“

„Aha!“

„Deshalb kriegen sie die Arme jetzt zusätzlich zu den Beinen nicht mehr hoch!“

„Oh!“

„Aber das ist doch immer noch besser als zu verblöden, nicht?“

Ja, für einen Akademiker mit zwei linken Händen, Personal und der Gewissheit niemals etwas mit den weit nach außen stehenden Körperteilen anzufangen, ist das absolut schlüssig!

Als Ingenieur, der die Zeit der Computerisierung und den Vormarsch der Softwaregiganten hautnah erlebte, haben derartige Aussagen, wie die meines Neurologen damals, einen säuerlichen Beigeschmack.

Bill Gates und sein Microsoft hat den ihn beauftragenden Konzern IBM einfach mal brutal über den Tisch gezogen und die Vormachtstellung aller Software, gegenüber der Hardware in Stein gemeißelt. Heute fragen sich junge Menschen, warum man ein Handy nicht über „5G“ ohne Kabel laden kann!

Das ist der Erfolg von Google, Amazon und Co. Wie Google in die Welt gelangt, möchte man gern nicht einmal erwähnen. So wie die Theorie der Trennung von Körper und Geist haben es die Programmschreiber geschafft, den Eindruck zu erwecken, sie existierten ohne Körper. Die Software stilisiert sich als freischwebende Seele, die Sinn und Verstand ohne Körper ist. Vielleicht hat diese Denkweise auf unser gesamtes Denken abgefärbt.

Anette Dewitz, unsere Gästin, verbindet Kreativität mit handwerklichem Geschick. Sie baut Puppen, schreibt Kinderbücher und macht Theater. Das ist der Gegenentwurf zum Tippen auf dem Handy.

Und dennoch! In Annettes Familie schwebt ein Damoklesschwert über den Nachkommen, dessen mögliche Auswirkungen unberechenbarer kaum sein könnten. Dieses Damoklesschwert trägt den Namen Demenz! Was das mit einem Menschen macht, schildert uns Annette sehr eindrücklich.

Als MSlerInnen sind Edda und ich es gewohnt, kognitiv mal falsch abzubiegen. Demenz (übersetzt  bedeutet es: ohne Verstand) ist der ultimative Softwareabsturz. Es ist aber keine Krankheit! Möglicherweise meinen Ärzte, es wäre viel toller, wenn man den Verlust des Verstandes gleich als Krankheit verkauft, da man ja eh nichts machen kann. Wir wissen es nicht!

In Annettes Familie ist „Altershirndruck“ – auf ärztisch Normaldruckhydrozephalus – eine mögliche Ursache. Das ist allerdings eine Krankheit. Und es gibt, rechtzeitig entdeckt, gute Mittel, die sogar chemiefrei helfen können. Dabei ist das Wort „rechtzeitig“ leider der Pferdefuß in der gesamten Nummer!

„Und was ist dann mit der Demenz?“

„Ja, da gibts leider nichts, wenn schon Zerstörungen im Gehirn passiert sind!“, bekommt man zu hören.

Anette geht mit dieser unwirklichen Bedrohung, so jedenfalls ist mein Eindruck, sehr gut um. Die Fragen, die sie sich stellt, habe ich mir im Kleinen auch schon gestellt. Was passiert mit mir, wenn ich ins Tal der Vergessenden abgleite, wenn ich die Welt um mich herum verliere? Meine Welt war damals die Arbeit als Entwicklungsingenieur und meine Familie. Meine Arbeit konnte ich zwar im Liegen machen, aber nicht ohne Hirn, während  ich mit meinen Kindern nicht im Wasser toben konnte, ohne zu ertrinken. Es ist halt beides wichtig!

„Wir wählen da doch nicht das schlimmere Übel, liebe NeurologInnen!“

Das mit dem möglichen Verblöden hat mir ne riesige Angst eingejagt, obwohl ich nur hirnmäßig leistungsgemindert betroffen wurde. Was aber passiert, wenn du schon in das Land des Vergessens abgebogen bist? Es ist ja nicht nur das Vergessen, obwohl das schon eine gruselige Vorstellung in uns allen erzeugt. Ohne eine Datenbasis im Gehirn – das Behalten – verliert man die Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen, die für jeden Menschen, der das eigenständige Aufs-Töpfchen-gehen erfolgreich früh im Leben abgehakt hat, selbstverständlich sind.

Und wie wirkt das nach außen? Aus meiner Erfahrung mit meiner dementen Schwiegermutter, die bis zum Schluß bei uns lebte, wirkt einer dementer Mensch auf uns extrem verstörend! Als Beobachtende wurden wir auf eine harte Probe gestellt. Egal welche klinischen Tests ÄrztInnen machen, es spiegelt die Wirkung auf uns nicht im entferntesten wieder.

Jemanden zu beobachten, sich selbst zu verlieren, ist emotional sehr hart.

„Und wie fühlt es sich an, wenn ich dement werde?“, fragten wir uns als Beobachtende natürlich genauso, wie es Annette tut.

Vielleicht ist es gut, wenn man nicht alles weiß! Annette möchte keinen Gentest machen lassen, mit dem man am Ende eine statistische Wahrscheinlichkeit auf eine mögliche Demenz in Händen hält. Ist es interessant zu wissen, was mein Neurologe damals so dachte, als er mir vom „Verblöden“ erzählte? Ich glaube, auch das möchte ich besser nicht wissen!

Euer Ingenieur

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