Folge 5: Koddison!

„Koddison oder Koddi“ ist die Allzweckwaffe der Medizin. Wir wollen im Podcast keine Medikamentenbewertung oder Werbung machen, aber bei Kortison machen wir eine Ausnahme, da er der Stoff der Stoffe schlechthin ist.

Kaum jemand zweifelt, wenn bei hartnäckigen Infektionen Antibiotika verabreicht werden. Kortison hat einen ähnlichen Status in der Medizin erreicht wie Antibiotika. Kortison ist allerdings universeller, es wird bei jeglicher Entzündung oder möglichen bevorstehenden Entzündung verabreicht. Ob es die Hautirritation, der Asthmaanfall oder der Bandscheibenvorfall ist, Rheuma, die Transplantation oder der anaphylaktische Shock nach dem Essen beim Chinesen oder Italiener, nichts geht ohne Kortison. 

Als ich erkrankte, warnte man überall vor Kortison. Aber was heißt schon überall! Es gab noch kein Internet. Wenn in irgendetwas auch nur der Hauch von Kortison war, gab es im Freundeskreis heftige Diskussionen. Bist du wahnsinnig? Cremes gegen Akne mit Kortison als Wirkstoff waren des Teufels. Dass ich dann ausgerechnet von Unmengen Kortison in der späteren MS-Behandlung eine heftige Steroidakne bekam, ist eine der sarkastischen Spielarten der Medizin. Damals war gerade die Zeit, da man erkannt hatte, dass es nicht gut ist, die x-fache Dosis eines so mächtigen körpereigenen Hormons dauerhaft zuzuführen. Heute ist das lange State of the Art. Außer bei Krankheiten, die zum Tode führen können, werden Menschen nicht mehr dauerhaft mit großen Mengen Kortison geflutet.

Kortison wird im Körper selbst gebildet und ist alles andere als ein synthetischer, erfundener Stoff. Es dauerte trotzdem 10 Jahre nach Entdeckung der Möglichkeiten die Kortison als Therapiestoff hat, bis man es synthetisch herstellen konnte. 10 Jahre! Stellt euch vor bei Corona…

Eigentlich ist Kortison nur die Vorstufe zum eigentlichen Kortisol, das dringend notwendig ist, wenn wir einer gefährlichen Situation gegenüberstehen und unser Körper schlagartig in den Aufmerksamkeitsmodus geschaltet werden muss. Wenn der Säbelzahntiger, heutzutage dein Chef, vor dir steht, sollte dein Körper alles Unwichtige sein lassen und sich der Gefahr widmen. Dazu gehören auch Tätigkeiten des Immunsystems, die unterdrückt werden. Der eingewachsene Zehnnagel wird in den Hintergrund gerückt, also dessen Heilung unterdrückt. Kortison hat aber zusätzlich zur Entzündungshemmung unzählige andere Aufgaben in unserem Körper, was das Wort Nebenwirkungen – wie es die Packungsbeilage sagt – ein wenig merkwürdig erscheinen lässt.

Wenn es um Leben und Tod geht, wird unsere ganze Kampfkraft aktiviert. Auch beim Balzritual in der Disko oder im Restaurant wird die Hormonarmee auf den Plan gerufen. Da heißt es höchste Achtsamkeit, vielleicht trifft man den wunderbaren Menschen gegenüber nie wieder. Wenn es um Fortpflanzung geht, scheinen wir zu reagieren, wie bei tödlicher Bedrohung. 

Ihr merkt schon, es handelt sich offensichtlich um die Bewältigung einer Notfall- bzw. Ausnahmesituationen und den Maßnahmen, die dringend erforderlich sind, um diese Situationen sofort zu bewältigen. Wer unter Mengen von Kortison nicht spontan ist, sollte einen Arzt aufsuchen. Vergleichbar mit Adrenalin für das Herz- Kreislaufsystem ist Kortison wie die Lachgaseinspritzung im Auto. Für kurze Zeit Hui, dann explodiert die Karre. Das ist einer der Nachteile. Wenn ihr einen Notfallknopf im Haus habt, und den drückt der Sohnemann das dritte mal in einer Woche, weil er gerade in der Feuerwehrautophase ist, werdet ihr die Folgen teuer bezahlen müssen. Dass was einmal der lebensrettende Mechanismus des Körpers war, wird heutzutage gern 8 Stunden während der Arbeit erwartet und nutzt sich ab. Stress ist die Folge.

5mg ungefähr produziert unser Körper; am meisten davon morgens, da wir uns nachts vermeintlich in einer Höhle in Sicherheit befinden sollten. Wieviel davon im Notfall freigesetzt wird? Keine Ahnung, aber wir verschießen garantiert nicht unser ganzes Pulver, wenn der Chef gerade wieder die Zahlen beklagt und euch dafür verantwortlich macht.

Um den MS-Schub zu unterdrücken, fluten Neurologen unseren Blutkreislauf mit bis zu dem 400fachen der körpereigenen Tagesproduktion. Mehr hilft mehr ist das einfache Motto. Dass man das nicht lange machen kann, und dass unser Körper tunlichst in Ruhe sein sollte, versteht sich von selbst. Na ja, mir war das damals nicht so klar!

Ich habe immer Ausdauersport gemacht, weil dann die Nebenwirkungen schnell zurückgingen. Habt ihr schon einmal ein Telefongespräch mit eurer Schwiegermutter unter Kortison geführt? Wenn nein, lasst es! Wenn ja, was hat es euch gekostet? Nennt mich Idiot! Aber die Nebenwirkungen sind eigentlich die Wirkung. Ob Kortison bei mir jemals wirklich seine Kraft entfaltet hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, ist aber unwahrscheinlich. Dieses Fehlverhalten meinerseits ist zufällig bei einem der sehr seltenen Arztgespräche nach vielen Jahren ans Licht gekommen. 

Neuro: Wie vertragen Sie die Infusion? Soll ich Ihnen noch was verschreiben?

Ich: Nö, geht schon, setzte mich gleich aufs Dreirad und fahre 4 Stunden!

Neuro: Waaaaaaas?

Ich: Mach ich immer so!

Dann wurde mir klar, dass ich den größten Teil der Kortisondosen abtrainiert hatte; und das über Jahre. Trotzdem traute ich mich auch zukünftig kein einziges Mal, einen Schub ohne Kortison auszusitzen. Wer weiß schon, ob nicht doch dauerhaft…

Dass Kortison keinen bewiesenen Einfluss auf den Verlauf der MS hat, wusste ich da schon lange. Wissen und Machen haben selten etwas gemein. Egal! Die Studien dazu sind uralt und die Patente sind abgelaufen. Außerdem, wer hat heute schon Zeit sich ins Bett zu legen und zu warten? Einem Problem können wir Kranken mit MS, aber auch allen anderen Kranken nicht entkommen. Der moderne Mensch ist daran gewöhnt, dass alles schnell und sofort geht. Krankheit ist etwas, das man schnell behandeln lässt und dann geht’s wieder zur Arbeit. Wer hat schon Zeit für Krankheit? Wie oft lese ich in den sozialen Medien: Ich habe die Beschwerden 4 Wochen nach der Infusion immer noch, was soll ich jetzt tun?

Als ich erkrankte, zog man MSler für mindestens ein halbes Jahr komplett aus dem Verkehr. Jede Anstrengung sollte vermieden werden. Ruhe und Geduld üben, war das Motto. Als man die ersten vielversprechenden neuen Medikamente produzierte, waren gleichzeitig die alten Ratschläge nichts mehr wert. Das ist komisch! Mein persönlicher Rat: Man kann mehrere Strategien betreiben. Man muss nicht Yoga sein lassen, wenn man Kortison nimmt. Und ganz sicher ist es sinnvoll sich zu schonen, wenn man Entzündungen im Gehirn hat; auch wenn man tagelang mit täglichen Dosen von 0,5-2 Gramm Kortison bombardiert wird. Denn das stresst den Körper enorm.

Ratschläge für oder gegen Kortison verteilen wir nicht. Was ich euch aber definitiv raten kann: Treibt keinen Ausdauersport während der Kortisonstoßtherapie! Und seid geduldig, die Natur ist unendlich viel langsamer als der menschgemachte Alltag.

Ach ja! Zur Arbeit gehen unter Kortison kann ich auch nicht empfehlen!

Der Ingenieur

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