Folge 2/14: Funktionsanzug oder Pille – Da fragen Sie mal Ihre Krankenkasse

Hallo, Leude!

Es war einmal… So muss die Geschichte heute anfangen. Im alten Griechenland baute man schon in der Antike mechanische „Automaten“. Sie öffneten Türen und machten wie von Geisterhand Musik für betuchte Bürger. Die Kraft des Windes, des Wassers oder schlicht aufgezogener Gummibänder ließ nicht nur Blechspielzeug wie von Geisterhand durch den Raum bewegen.

Einer der wohl weltweit anerkanntesten Spezialisten für „Hilfsmittel“ im Sport, sowohl zur Gesundung als auch zum Ausgleich von Behinderungen, ist „Otto Bock“. Mir ist Otto Bock aus dem Leistungssport bekannt. Sie bauen aber auch Rollstühle. Mittlerweile laufen Unterschenkel-amputierte Hochleistungssportler fast so schnell wie gesunde Leistungssportler. Also eigentlich nur etwas moderner als Blechspielzeug, und die Substanz ist nicht Blech, sondern Menschenmaterial. Dass derart getunte Menschen trotzdem behindert sein sollen, ist nicht mehr als ein juristisches Schmankerl.

Während die Blechautomaten der Antike sinnbefreit Könige verzückten, macht Otto Bock das mit teilamputierten Top-Athleten für ein Millionenpublikum.

Jetzt mal Hand aufs Herz! Wem traut ihr eher Verständnis für Bewegungsabläufe zu? Den Spezialisten von Otto Bock, die mit den genialsten Sportlern der Welt, das beste gesunde und kranke Menschenmaterial haben oder dem neurologischen Chefarzt der Klinik XY, der ganz, ganz viele kaputte Menschen von seinem Büro aus gesehen hat? In den Gremien, die beurteilen, ob etwas von der gesetzlichen Kasse bezahlt werden sollte, sitzen Chefärzt*innen. Die pochen auf Evidenz. Also Wirksamkeit!

Mir fällt die Antwort leicht.

Otto Bock hat nun eine Art Ganzkörper-Stimmulator entwickelt, der Menschen, deren Nervenleitung gestört ist, für 12 Stunden zu ein bisschen Normalität verhilft. Einige können sogar wieder so gehen, was jeder erkennen kann, dass es sich tatsächlich um „Gehen“ handelt. Wir sind dann quasi wie aufgezogenes Blechspielzeug für 12 Stunden zu Dingen in der Lage, die sonst nicht gehen. Apropos „Gehen“! Wenn du drei Spezialisten fragst, was „Gehen“ ist, bekommst du drei Antworten. Der Physiotherapeut sieht den Bewegungsablauf, der Chefarzt im Gremium guckt auf die Geschwindigkeit, die jemand irgendwie von A nach B braucht und der Otto Bock Spezialist erkennt den optimalen Paralympioniken dessen kleinste Muskelabläufe optimiert werden sollen.

Ja, gut wir sollen keine Athleten werden, aber dass Ärzt*innen Gehen als unglaublich komplexen Bewegungsablauf – die Menschheit brauchte Millionen Jahre zum Erlernen – ignorieren, finde ich bedenklich. Ich bin aber auch ein Prinzipienreiter, der es mag, wenn er weiß, was Neurolog*innen überhaupt unter Gehen verstehen.

Der Ganzkörperstimulator heißt abgekürzt „Mollii Suit“. Bei MSlern bewirkt das Teil manchmal wahre Wunder. Das kann man in den sozialen Netzwerken in vielen Videos bestaunen. Dazu braucht man lediglich zwei gesunde Augen. Vorher, nachher! Selbst die tollsten Schauspieler dieses Planeten sind sofort enttarnt, wenn sie neben einem wirklich betroffenen Menschen, spastische Bewegungen simulieren sollen. Das Zittern eines Alkoholikers oder das Maskengesicht eines an Parkinson erkrankten Menschen.

Man muss blind sein, um das nicht zu sehen. Aber das reicht nicht, damit die gesetzliche Krankenkasse Evidenz also Wirksamkeit akzeptiert.

Wo kämen wir hin, wenn es so einfach wäre? Den besten Entwickler*innen von Messtechnik ist es nicht einmal annähernd gelungen, ein technisches Äquivalent zum menschlichen kurzen Beurteilen zu entwickeln. Das ist natürlich blöd, weil nur das in der modernen Medizin zählt. Jedes Messgerät misst nur physikalische Größen ohne Aussage. Wir wissen, wie Laufen, Gehen oder Greifen aussieht. Wie der elektrochemische Prozess das Gehen mit unserem Gehirn möglich macht, weiß niemand. Das könnte daran liegen, dass sich die Bewegung von Blechspielzeug und Lebewesen ein kleinwenig unterscheidet.

Aber!

Der Chefarzt im Gremium, der sich für herumlaufende Menschen eher null interessiert, braucht einen handfesten Beweis dafür, dass der Mollii Suit tatsächlich funktioniert. Was das sein soll, ist dann unter dem Begriff „Evidenz“ (Wirksamkeit) gefasst. So weit so unklar. Wenn du einen Apfel fallen lässt, fällt der auf den Boden. Ursache macht sichtbare Wirkung. Nur was ist das in der Medizin?

Eines weiß ich. Es hat nichts mit Naturwissenschaft und dessen Regeln zu tun. Es gibt eigene Regeln. Deshalb braucht man zur Beurteilung der Wirksamkeit eines Mollii Suits eine randomisierte Doppelblindstudie. 

Das behauptet der medizinische Beirat der deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. 

Na klar! Dieses Verfahren ist der heilige Gral der modernen Medizin.

Selbstverständlich merkt niemand, wenn der Anzug (Mollii Suit) nach dreißig Minuten Anzieh-Wahnsinn gar nicht eingeschaltet wird, und du statistisch mit jemand ganz anderem verglichen wirst, dessen Teil elektrisch über Wochen angepasst wurde. Dir haben sie einfach einen Gummianzug angezogen.

Liebe Chefärzt*innen, schlimmeren Unsinn habe ich in den ganzen Jahren, die ich krank bin, tatsächlich noch nie gehört.

Edda ist bei der Vorbereitung für diese Podcastfolge sofort aufgefallen, dass es für den Stimulations-Anzug einen chemischen schon zugelassenen Pillen-Ersatz gibt. Ein Präparat aus der Pharma-Küche dessen Grundidee zufällig aus den gleichen Jahren herrührt, da man die elektrische Stimulation von Schmerzzellen nachwies. Und die funktioniert auch genau 12 Stunden.

Es treten in unserem virtuellen Vergleich also eine Pille aus der Gruppe der Aminopyridine gegen seinen elektrischen Gegner an. Wir funktionieren nämlich elektrochemisch! Man kann an der Chemie drehen oder am Knopf für die Elektronik. Nervenleitung wird besser, wenn man den Saft aufdreht oder den Saft besser durchlaufen lässt.

Blöd nur, dass die Chemie im Gegensatz zur Muskelstimulation durch den ganzen Körper zirkuliert und beträchtliche Nebenwirkungen verursachen kann. Wenn du Chlor ins Wasser kippst, musst du zur Wirksamkeit das gesamte Becken fluten, obwohl Opa Wilhelm nur ganz hinten am Rand ins Wasser gepieselt hat. Ja, das geht nicht anders. Wieso bekommt dann die Pille schon vor über zehn Jahren den Daumen nach oben und der Stimulator wird abgewürgt? Die Pille wird randomisiert, doppelblind, statistisch korrekt mit einem angepassten Studienprotokoll auf Wirksamkeit nur für einen ganz eng gefassten Kundenkreis zugelassen.

Das kenne ich von Patenten. Ist deine Idee mehr so „na ja“, engst du die selbst ausgedachten Bedingungen so lange ein, bis der Prüfer dich mit einem mitleidigen Blick, aber einem Patent-Zertifikat entlässt.

Ich hatte schon erwähnt, dass man „Gehen“ nicht messen kann! Aber die Geschwindigkeit mit der man sich von A nach B bewegt allemal. Stoppuhr scharfgestellt und dann geht‘s los. Zwanzig Füße weit! Also irgendwie sieben Komma irgendetwas Meter auf den Beinen halten. Mein Physio hat mir vor 25 Jahren gesagt: Du kannst dich zwar mit den Beinen bewegen, aber Gehen ist was anderes. Das interessiert die Neurolog*innen aber nicht, weil man das ja nicht messen kann; völlig blind und zufällig, statistisch.

Mollii Suit punktet jedenfalls mit mehreren Vorteilen, gegen die die Pille mal gar nicht anstinken kann. Er ist ein Grundsatzpatent hoher Güte im Vergleich. Die Pille hat’s nur zu einer eng eingeschränkten Zulassung gebracht. Dazu muss man auf der Skala fürs Kaputtsein genau den richtigen Treffer landen. Man darf nicht zu weit nicht zu kurz, aber man muss unbedingt mindestens irgendetwas.

Wenn das die Pille (Kaliumkanalblocker) wüsste, würde sie sich sofort in Luft auflösen. Allein die Idee, dass eine Pille nur in einem Rahmen einer doch sehr merkwürdigen Skala eines amerikanischen Neurologen aus den Sechzigern wirksam ist, schaudert mich. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber da passt was nicht zusammen.

Kommen wir zum großen Thema Nebenwirkungen. Wenn dein Mollii Suit nicht getasert wird, sollte nichts schief gehen. Der Waschzettel der Pille liest sich wie die Aufzählung vieler Einzelkrankheiten, die du alle umsonst dazu bekommst, damit du ein paar Meter weiter … Nein Entschuldigung! Nicht weiter musst du kommen, schneller wirst du!

Also wenn das kein geschicktes Studienprotokoll ist, weiß ich‘s auch nicht. Ich spürte die Verzweiflung in jeder einzelnen niedergeschriebenen Zeile der Zulassungsstudien von „Fampyra“. So hieß das Urmedikament mit dem Wirkstoff Fampridin.

Aber!

Ich habe Fampyra selbst ausprobiert. Ich arbeitete mich mit Mühe in den Kreis der Begünstigten und was soll ich sagen, es funktionierte wie verrückt. Ich konnte sogar weiter laufen und schneller. Bei dreißig Grad im Sommer fühlt sich mein Gesicht wie eingefroren an und ich war komplett inkontinent. Bestimmte Regionen wurden so überempfindlich, dass ein Windhauch Schmerzen verursachte. Tja leider kann man nicht verhindern, dass sich nicht alle Neuronen angepeppt fühlen. Wie auch? Und einige sind eh schon überaktiviert. Das ist blöd, aber was macht man nicht alles, um schneller zur Arbeit zu kommen.

Beim elektrischen Prinzip verändert man Intensität und Frequenz und schon ändert sich was. Das geht auch nur bedingt, aber es ist steuerbar.

Für mich ist der Mollii Suit der Gewinner. Man kann ihn sich auch einfach kaufen, ohne dass man wie ein Äffchen im Gehtest viermal nachweisen muss, dass man die Geschwindigkeit erhöht hat unter der Pille. Man sollte nur knapp 10.000 Euronen in der Schublade haben.

Kleiner Tip, für diejenigen, die die Pille ausprobieren wollen und sich einem pingeligen Neurologen gegenüber sehen. Man muss ohne Pille nicht alles geben auf 7,xxx Metern.

Euer Ingenieur

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