Folge 3/19: Fortschritt oder Schminkspiegel?

Wenn es um früher geht, dann war früher immer alles besser. Schüler*innen waren noch schlau und folgsam. Man kann es kurz zusammenfassen mit „Friede Freude, Eierkuchen!“ Die Leistungen der Deutschen waren nahezu übermenschlich, denn sie hatten ja nichts. Es hat sich daraus sogar eine Partei entwickelt, die alles Gewesene toll und alles Progressive ganz doof findet.

Wie man dann jemals aus der Höhle gekommen ist, verstehe ich persönlich nicht. Eines war jedoch früher immer nicht gut und ist aktuell immer am Besten. Medizin! Da kann man sich schon fragen, ob es tatsächlich nie etwas zum Bewahren gegeben hat.

Edda und ich sind ein Teil der Historie der Medizin. Als an MS erkrankter Mensch wird jeder eigentlich irgendwann historisch. Unheilbar bedeutet auch, dass du alle möglichen Heilversuche, Heilversprechen und Ursachen für die Krankheit live miterlebst. Das ist leider nicht sehr spannend. Du wirst sozusagen jährlich enttäuscht. MS liegt bei den Medien alle 12 Monate auf Wiedervorlage. Und jedesmal kommt irgendwer um die Ecke, der jetzt ab er wirklich … Na ja!

Irgendwann registriert man den Kram gar nicht mehr. Andauernd wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Glaubt man jedenfalls. Eigentlich ist die Sau teilweise Jahrzehnte dieselbe. Trotzdem werden wir immer gesünder, weil die Medizin so innovativ ist. Sagt man jedenfalls.

„Damals konnten wir ja nicht, weil es kein MRT gab!“ Aha! Damals konnte mein Arzt aber auch ohne MRT sofort mein ausgeleiertes Gelenk samt Bänderriss und allem drum und dran durch bloßes Handauflegen diagnostizieren.

Bei Läsionen im Gehirn wird’s dann knifflig. 1992 hatten Krankenhäuser keine MRT. Es gab hier in der ganzen Region eine einzige dieser Höllenmaschinen, die bei einem innovativen Radiologen im Keller stand. Wenn das Ding startete, brach die Hölle los. Eng, klein, laut und unglaublich langsam. Da wolltest du nie wieder rein, wenn du einmal 90 Minuten bestrahlt wurdest unter extremer, akustischer Begleitung.

Bei der Lumbalpunktion haben sie dir ne Nadel reingehauen, die wie ein Aktenlocher bei DIN A4 Blättern ganze Fleischstücke ausstanzte. Die Zeit als die Kanülen noch aus massivem Metall gefertigt waren, und die Injektionsnadeln vorn mit einem Gewinde aufgeschraubt wurden … Jetzt bin ich versehentlich gedanklich in einem Hollywood Horrorfilm gelandet. Das willst du nicht wieder haben. Und trotzdem war das Injektionsbesteck von 1992 der heißeste Scheiß auf dem Medizinmarkt.

Elektroden zum Aufkleben ohne Nadeln wollten meine Neurologen damals auch nur sehr unwillig zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit benutzen. Es gab sie schon! Aber! Egal, was sie messen mussten, sie hauten dir erstmal ne Nadel rein.

„Glauben Sie mir, das ist ja auch viel genauer!“, sagte der Neurologe voll Überzeugung lächelnd. Heute würde man fragen, ob er noch alle am Helm hat oder ein private Leidenschaft, die wir nicht unterstützen. Gut, ne Nadel im Bein, tief genug reingesteckt, fällt nicht so leicht ab und rasieren muss man auch nichts. Das war lästig, bis es Normalität wurde.

So, jetzt habe ich wirklich Dinge aufgezählt, die für mich echte Fortschritte der Medizin sind, beziehungsweise damals richtig eklig waren. Bei genauerer Betrachtung ist es aber nur dem Schminkspiegel im Auto gleich. Ist keiner da, kommt man schon mal vor einer Gala auf dem Beifahrerinnensitz ins Schwitzen. Oder der Kofferraumdeckel, der sich heute von selbst öffnet. Man müsste die Kiste Bier nochmal abstellen, bevor man sie in den Kofferraum stellt. Und wer hat nicht Rücken? Das Herz des Autos, das, was ein Auto ausmacht, ist zumindest in Deutschland immer noch ein Explosionsantrieb mit den Ideen aus dem 19en Jahrhundert. Wobei man wenigstens weiß, wie dieser Motor funktioniert. Das ist bei Krankheiten wie MS leider ganz anders. Medizin hat eben keine Ahnung, wie MS wirklich funktioniert, oder bei wem sie ausbricht oder nicht. Für Menschen, die möglicherweise erst MS bekommen könnten, ist das Ergebnis der Medizin genauso Null wie 1992.

Und die, die es schon haben, sollte es nicht wirklich interessieren, woher MS kommt noch wie man’s kriegt. Denn dann stellt man sich sofort die Frage: „Warum ich?“ So sehr uns diese Frage umtreibt, so sinnlos ist sie. Denn das „Warum“ bedeutet, du hättest etwas ändern können. Selbst die modernen christlichen Kirchen, Sekten ausgenommen, bauen beim Angst machen weniger auf Schuld heutzutage. 

Du hast es und es ist unheilbar und das stramme 600 Jahre. Punkt! Und selbst wenn es heilbar wäre, blieben die Schäden. Dass die Medizin Löcher im Gehirn stopfen kann, wird in meiner Lebenszeit und der kommender Generationen sehr unwahrscheinlich sein. Vielleicht wird Medizin deshalb nur immer besser und hat immer nur Fortschritt. 

Nun wieder die guten Nachrichten. Statistisch führt eine mit Medikamenten behandelte MS zu weniger Schüben und theoretisch zu einem milderen Verlauf.

Als jemand, der sein Arbeitsleben mit technischen Entwicklungen verbracht hat, kommen mir bei diesen Aussagen immer Zweifel. Das liegt wohl daran, dass es mir unmöglich gewesen wäre, irgendetwas zu entwickeln, ohne zu verstehen, wie das funktioniert, was ich entwickeln soll. Man kann natürlich auf Zufall bauen. Wer kennt es nicht, wenn von 200 Teilen 10 übrig bleiben bei der Hobby-Reparatur. Und dann läuft das trotzdem irgendwie.

Man weiß gar nicht, wie eine MS individuell verläuft. Deshalb ist MS eine Ansammlung von Krankheiten, die man unter diesem Namen zusammenfasste. Ich stelle mir gerade vor, man stellte mir eine Blackbox vor die Nase, die plötzlich davon schwebt und Tschüß ruft! Mein Chef sagt dann: „Super, so was müssen sie mir entwickeln!“

Das Beispiel mag übertrieben wirken, denn statistisch … Leude, statistisch gibt es meinen Verlauf überhaupt nicht und der von Edda ist so kurios, dass es dafür gar keine ernstzunehmende Wahrscheinlichkeit gibt. Einzelfälle!

Das Argument finde ich komisch, da ich ein Einzelfall bin, so wie alle von euch Einzelfälle sind, solange niemand weiß, wie MS funktioniert. Deshalb müssen Neurologen in den sauren Apfel beißen und individuell behandeln. Das bedeutet ausprobieren! Mein Neurologe war tatsächlich sehr experimentierfreudig, und ich als Entwickler fand das irgendwie spannend. Ich war einer seiner ersten Exemplare. Er hat mich sehr genau beobachtet und verfolgt. Diese Begeisterung lässt dann ganz selbstverständlich mit dem Alter immer mehr nach. Ich habe keine Lust mehr, etwas zu entwickeln.

Ersetzt werden soll diese Art der Behandlung durch moderne multizentrische „Irgendwas“. Eine wirklich geniale Idee, nämlich dass man Daten braucht, will man Statistik machen, wurde tatsächlich ins Leben gerufen. Das MS Register ist eine Sammlung individueller Verläufe und liefert gute Daten. Ein großer Fortschritt! MS Ambulanzen können zumindest theoretisch mit großen Patientenmengen gute Behandlungsstrategien erarbeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass da dann was für euch dabei ist, erscheint groß.

Mein Problem mit dieser fast industriellen Abfertigung von Patienten, ist die Nähe zum Behandelnden. Ist die genauso gut, wie sie bei meinem Neurologen war, der mich über 25 Jahre beobachtete und anfangs von meiner Hausärztin versorgt wurde, die mich gesund kannte?

Wenn mit einem mal 100 Blackboxen weg schweben und jede sagt was anderes, einige verändern ihre Farbe, weiß ich dann mehr über dieses Phänomen? Leider nicht!

Würde ich eine der Boxen einfangen und mit ihr reden können, würde ich sicher mehr erfahren, als wenn ich 100 wegfliegen sehe. Ich bin natürlich durch die Naturwissenschaft völlig versaut in meiner Denkweise, weshalb ich durchaus falsch liegen kann. Nur hat mir noch nie ein Medizinierender, selbst die, die ich persönlich kenne, meine grundsätzlichen Fragen zu MS beantworten können. Antwort: „Das können wir doch gar nicht wissen!“

Ich stelle mir vor, ich hätte meinem Chef jemals diese Antwort gegeben. Setzen 6!

Euer Ingenieur

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