
Hallo Leude!
Unsere Ärzt*innen sind im Fachbereich Neurologie der Fachmedizin beheimatet. Ganz abgesehen davon, dass ich sie 1992 eher mit Psychiatern verwechselte, sehe ich heute eine gewisse Verwandtschaft zu meinem beruflichen Fachgebiet.
Früher, also in der Steinzeit, war es für Ingenieure das höchste Ziel, ein Entwicklungsingenieur in der F&E zu werden. Selbst etwas schaffen! Sich komplexen Problemen stellen und 1% Erfolg abfeiern, nachdem 99% der Ideen scheitern oder schlicht abgelehnt werden.
Dazu muss man einen Faible für die Sache entwickeln. Und eine ein wenig masochistische Ader schadet auch nicht.
Heute will doch niemand mehr Entwicklung machen. Genauso möchten nur 4% der Medizinstudenten, die paar Frauen lasse ich mal ganz weg, Neurologen werden. Zu schwer, zu komplex, man kann nicht heilen und so weiter. Interdisziplinär. Das ist doch Kappes, wenn man Gott in Weiß werden möchte.
Ich finde das selbstverständlich höchst bedauerlich. Es wirft aber ein völlig neues Licht auf meine Ex-Neurologen. Trotz angeblich schlechter Bezahlung, darbt von meinen Neurologen niemand dahin. Nein, sie gehören zur Oberklasse.
Was daran allerdings so merkwürdig ist, ist doch das Bild des Medizinierenden, der oder die den
Beruf aus Menschlichkeit, dem Willen zur Heilung und Hilfe ausüben möchte, statt des Geldes wegen. Also Entwicklung machte man früher schon aus Schöpfungswillen, aber auch, weil da gut Kohle verdient wurde. Gut, wenn du Ingenieur bist, spricht man dir schon historisch das Sensible, Menschliche ab. Du machst ja nur mit Maschinen rum.
Also damals in der Steinzeit! Heute ist die Haupteinnahmequelle im Elektrotechnik-Studium das BWL Studium, das man gewöhnlich parallel macht. Das begann schon zu meiner Studienzeit. Die Weitsichtigen wussten schon damals, dass du mit reden, telefonieren und schicken Anzügen deutlich mehr verdienen kannst als der Nerd im Labor.
Radiologen zum Beispiel, sind für mich die BWLer der Medizin. Du musst gar nichts verstehen, nichts beurteilen, nur gucken, ob was abweicht vom selbst erfundenen Normal. Ist das nicht cool? Es ist wie Consultant. Abkassieren ohne irgendetwas am wirklichen Problem verantwortlich getan zu haben. Ein feuchter Traum!
Und wer sitzt nachher mit den Patient*innen da und den Bildern aus dem MRT? Die Neurologen! Die kriegen die unangenehmen Fragen, die die Radiologen erst gar nicht zulassen. Was bedeutet das denn jetzt? Warum sind da so viele Herde, und ich merke gar nichts? Wieso habe ich nur einen Herd und sitze im Rolli?
Der Radiologe sagt, ohne dich anzugucken: „Das ist nicht meine Aufgabe, fragen Sie Ihren Neurologen oder ihre Schwiegermutter!“
Ich befürchte, es ist ungefähr so wahrscheinlich MS zu bekommen, wie einen Neurologen zu finden, der auf MS spezialisiert ist und der keine Nulpe ist. Denn wie in jedem Beruf, gilt auch hier die Gaußsche Glockenkurve. Die Meisten sind mittelmäßig, ganz Wenige sind gut und ganz wenige Totalausfälle. Ausgerechnet in der Medizin wird diese Tatsache wie bei den Juristen komplett durch den Staat ignoriert. Man behauptet einfach, allein durch das Studium und die Praxis wären alle gleich. Somit ist es egal, zu wem man geht.
Das ist so verrückt, dass es bei mir, als ich erkrankte, einen Lachflash im Krankenhaus auslöste, da ich tatsächlich ne Nulpe gezogen hatte. Man versuchte mich zu beruhigen, da man glaubte, ich sei mental durch den Wind. Das war ich tatsächlich, aber nicht weil ich MS hatte. Das Gegenteil war der Fall. Durch den DR. wirst du gleich! Alle sind gleich. Ich wäre fast erstickt im Bett.
Leude, ich bin ein Mann mit MS, die auch noch schwer verläuft. Ein Drittel von einem Drittel von 1 zu 200000, und dann triffst du den Typen, der dir was von salzloser Ernährung erzählt. Da kannst du nur lachen. Wenn das nicht Pech ist, dann weiß ich es auch nicht. Das ist so, als fiele dir ein Meteor auf den Kopf.
Wenn ich geahnt hätte, dass es wahrscheinlicher ist, vom Blitz getroffen zu werden, als mit einem guten Neurologen gesegnet zu sein, wären meine positiven Vibes, die ich immer hatte, echt gedämpft worden. Ich wusste es zum Glück nicht.
Nun wissen wir, dass Unwissen vor gar nichts schützt, sondern das Gegenteil bewirkt. Als ich dann einen wirklich guten Neurologen traf, war mir genauso wenig klar, dass ich den Sechser im Lotto gezogen hatte. Das ist schon alles verrückt und zeigt uns, wir sollten für bestimmte Dinge im Leben keine Wahrscheinlichkeit bemühen. Es macht deutlich mehr Sinn, seinen Gefühlen zu vertrauen. Näher als wir uns selbst sind, ist uns niemand. Und MS ist weder ein böses Wesen noch ein irgendetwas anderes Eingeständiges. Wir brauchen Neurologen zum Einordnen. Ja, auch zum trösten. Wir brauchen sie als Vertraute. Sie müssen uns etwas anbieten, auch wenn jeder weiß, dass es nicht heilt. Ändern können sie interventionistisch nichts. Deshalb will es auch niemand machen. Du wirst nur der Held und Heiler, wenn du was rausschneidest oder was dran nähst, nicht wenn du die Schultern zuckst und tröstest. Heute ne Pille und morgen ist wieder alles gut. „Danke, Herr Doktor!“
Ich persönlich habe schon etwas Mitleid mit den heutigen Neurologen. Auf YouTube unterhält sich ein Neurologe mit ChatGPT über MS, so behauptet er jedenfalls. Es sind die absoluten Basics, die er abfragt. Wozu bedarf es einer KI? Dann stellt er seine Fragen auch noch so formuliert, dass völlig klar ist, dass er die Antwort kennt. Wenn ich etwas gelernt habe im Berufsleben als Entwickler, dann, dass man sehr genau fragen muss, um gute Antworten zu bekommen. Man muss recherchieren können. Blöderweise ist dabei egal, ob du ne KI gegenüber sitzen hast, die Dir schlaksig Menschlichkeit simuliert oder ein Buch auf dem Tisch liegen hast.
„Wozu macht dieser Neurologe das?“, fragte ich mich, als ich es sah. Er hält es offenbar für eine echte Errungenschaft, dass die KI Fragen beantwortet, die in meinem Trias Heftchen von 1992 auf den ersten 10 Seiten vollumfänglich beantwortet wurden. Ganz ohne Silicon Valley Charme natürlich. Ich hege große Zweifel, dass der YouTube-Neurologe sich mit den wirklichen Bedürfnissen von MS Betroffenen auseinandersetzen möchte. Vielleicht kennt er sie auch schlicht nicht. Er stimmt die KI ein, wissenschaftlich korrekt zu antworten. Wenn er dann wenigstens nicht längst geklärte Fragen gestellt hätte. Eine Unterhaltung besteht im Kern darin, dass man Inhalte kritisch austauscht. Das macht ein Gespräch aus. Wir wollen ernst genommen werden. Es hat mich aufgeregt, wie ihr merkt. Ich denke, die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neurologe auf eine solche Idee kommt, obwohl es nur so wenig Neurologen unter Ärzten gibt, wie es MSler überhaupt gibt, ist 90%.
Und er kann nicht einmal was dafür! Er ist eben nicht krank und Neurologe! Da stimmt was in der Ausbildung nicht. Es stimmt etwas sogar ganz und gar nicht!
Euer Ingenieur