Folge 3/23: Heute leider nein. Morgen vielleicht auch.

Hallo, Leude!

Was bist du für ein Typ? Pünktlich bis zum Herzinfarkt, wenn es mal zwei Minuten später wird?
Wenn das so ist, hast du mit MS ein richtig fettes Problem. Zusätzlich zu den ganzen anderen Problemen, die eine chronische Krankheit mit sich bringt, dürfte sich Zeitpedanterie richtig ungünstig auf das Wohlbefinden auswirken.

Wenn ich von einem überzeugt bin, das alle chronisch kranken Menschen auszeichnet, dann ist es die Unmöglichkeit, ein absolut planbares Leben zu führen. Selbst diejenigen unter uns, die einen chaotischen Lebensstil bevorzugen, werden überrascht sein, was es bedeutet, wenn du heute noch nicht weißt, ob du morgen aus dem Bett kommst.

Wenn Psycholog*innen von Anpassungsschwierigkeiten reden, ist das eine grandiose Bagatellisierung des Problems. Ich rede nicht darüber, dass einige schon durchdrehen, wenn sie im November vergessen, den Sommerurlaub des nächsten Jahres schon in trockenen Tüchern zu haben. Apropos Urlaub! Als MSler*in bekommst du nicht einmal eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen. Das solltest du wissen! Versicherungen setzen deine Unfähigkeit, eine Reise anzutreten, als Normalität voraus. Daran gibt es nichts zu rütteln.

Das hört sich alles ziemlich schlimm an. Ich sage es mal vorsichtig so: „Wenn du nicht zu einer Geburtstagsparty eine Stunde ohne Reue zu spät kommen kannst, hast du ein Problem mit der Urlaubsplanung!“

Meine Erfahrung mit dem Thema ist vielfältig, und ich gebe gern ein paar Tipps zum Besten. Wenn du das kommende Event zu wichtig machst, wirst du dein Scheitern nur befördern. Frei nach dem Motto: „Überrasch mich!“, kann das nur gut werden. Natürlich muss man sich da total umstellen. Vor allem hat sich die Planungstaktik quasi umgedreht. Die großen Sachen sind egal, aber wenn du in die Stadt willst mit dem Auto, musst du vorher eine Meditationsstunde einlegen, damit du den Typen mit dem eingewachsenen Zehennagel, der da auf deinem Behindertenplatz steht, nicht den Schädel mit der Krücke einschlägst, sondern einfach wieder nach hause fährst. Und dann probierst du es irgendwann nochmal.

Ich spreche nicht davon, ob du pünktlich deine Einkäufe tätigen kannst, sondern überhaupt. Zu was führt dieses neue Leben? Nun, das ist je nach Typ sehr unterschiedlich. Im krassesten Fall bist du irgendwann so mürbe und eingeschüchtert, dass du das Haus nicht mehr verlässt. Du traust dich nicht mehr, eingeladen zu werden, und du wirst schon gar nicht mehr allein irgendwohin fahren, rollen oder gehen. Das ist tatsächlich eine sehr häufige Folge der MS, für die die Medizinierenden noch nach einer Pille suchen. Die zweite Variante ist, dass du womöglich wirklich einmal einen Falschparker oder eine Falschparkerin erschlägst. Ich hörte, dass Schwerbehinderte im Knast absolut top versorgt werden. Alles ist schön behindertengerecht eingerichtet, und sehen muss dich auch keiner mehr.

Aber Spaß beiseite, die beste Variante ist, dass dir Termine generell egal sind, du dich gar nicht aufregst, wenn du mal wieder einen Laden nur von außen bestaunen kannst, der Busfahrer meint, du könntest auch fahren, wenn nicht so viel los ist oder dein Behindertenparkplatz, wie es jedes zweite Mal der Fall ist, von einem rüstigen Rentner mit zwei schweren Taschen an jeder Seite des Körpers belegt ist.

Der Psychologe wird dir dann einreden wollen, dass man Gelassenheit üben muss. Recht hat er oder sie. Als ich mit dem Rad statt fünfzig Kilometer nur noch fünfhundert Meter weit kam, war die Antwort, der Weg sei das Ziel und fünfhundert Meter können auch schön sein. Sorry, Leude! Das ist nicht schön, nein, ganz und gar nicht. Das kann man sich nicht einmal schön saufen.

Sie müssen Ihre Prioritäten neu sortieren! Auch ein Psychospruch wie aus einem Glückskeks beim leckeren Chinesen, der dummerweise Stufen vor der Tür hat.

Sie meinen es ja alle nur gut! Ein Neurologe, seines Zeichens beleumundete Koryphäe, damals im Krankenhaus, empfahl mir, doch einfach nachts in die Hose zu „pissen“, und diese morgens zu wiegen, um herauszufinden, was sich in der Blase sammelt. „Dann wissen Sie, wieviel sie nachts ‚pissen’!“ Tolle Idee!
Der jungen Frau, die nach mir rein ging, empfahl er einen Mantel über die „vollgepisste“ Hose im Rolli beim Shoppen zu tragen. Das sähe dann ja niemand. Oder Windelhosen.

Er war einfach „angepisst“, dass man von ihm erwartete, eine Lösung für ein medizinisches Problem zu haben, nur weil er Arzt ist. Das sagte er tatsächlich. Leude! Wie kann man nur auf die Idee kommen, es gäbe eine medizinische Lösung für ein medizinisches Problem? Verrückt!

Resilienz müssen wir auch beweisen, wenn wir bei denen vorsprechen, die Resilienz als gute Methode für uns ausrufen.

Tatsächlich müssen wir zur ominösen Teilhabe am öffentlichen Leben manchmal extrem resilient sein. Termine nicht wahrnehmen zu können, ist da eher ne Fingerübung. Der Anteil derer, die sich nicht mehr aus dem Haus trauen, ist jedenfalls nicht kleiner geworden. Die Statistik sagt aber, es gäbe nur 5% schwer Betroffene unter uns. Gleichzeitig sind psychische Störungen allerdings für uns alle über 40% wahrscheinlicher als normal. Besonders Anpassungsstörungen. An was?

Und die Digitalisierung, die hoch gepriesene, sorgt dafür, dass du deine Ärztin nicht mehr anrufen kannst, sondern per Internet einen Termin machen sollst. Das ist ne tolle Sache, wenn man kaum etwas tippen kann oder kaum etwas sieht. Die gute alte Stimme, mit der man sein Begehr zum Ausdruck bringt, erfordert blöderweise jemanden auf der anderen Seite. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Dafür will man für abgesagte Termine jetzt Geld. Der Fortschritt macht auch vor uns Kranken nicht halt. Eine Statistik dazu steht noch aus, 2050. Halleluja!

Euer Ingenieur

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