Folge: 2/20 Die Leitlinie ist die Leitlinie ist die Leitlinie.

Hallo Leude!

In dieser Podcastfolge bestand die Gefahr, in Ärzt*innenbashing zu verfallen. Wir haben aber die Kurve sehr gut gekriegt, denke ich.

Worum ging es?

Edda und ich hatten beim Austausch von Erinnerungen festgestellt, dass uns begleitend Ärzt*innen zur seltsamen Annahme neigten, Dinge über uns zu wissen, die sie unmöglich wissen können. Damit meine ich nicht, die Erklärung zu verhuschten MRT Bilder oder das „Wow“, wenn ein Bein nach oben schießt, weil man mit dem Hammer draufhaut.

Es geht um die Gefühlsebene! 

Wenn Ärzti*innen dir erzählen wollen, wie sich etwas anfühlen muss oder soll, betreten sie nicht dünnes Eis, sie stürzen sich blindlings ins kalte Wasser. 

Warum sie das seit Anbeginn der Zeit tun, weiß ich nicht. Jedenfalls haben sie den passenden Fachbegriff für ihr Verhalten gleich miterfunden: „Kognitive Dissonanz“.

Resonanz kennt man aus der Musik, wenn akustische Instrumente schöne Klänge erzeugen, dadurch, dass das Material aus dem sie gefertigt werden, in Schwingungen versetzt wird. Resonanz ist perfekte die Antwort des Materials. Dissonanz tut in den Ohren weh! Wenn du unter der Dusche singst, ohne dass man dich hört, ist alles gut. Ein schiefer Ton und es rollen sich uns die Fußnägel auf. Wie gesagt, außer du singst selbst, dann sind wir irgendwie immun.

Kognitive Dissonanz meint etwas ganz anderes als musikalische Dissonanz. Ich finde es merkwürdig! Es bedeutet nämlich, dass jemand etwas gegen besseres Wissen tut. Du bist Geologe und erforschst die Millionen Jahre alte Erde und glaubst gleichzeitig daran, was in der Bibel über die Erde steht.

Ärzt*innen sind besonders anfällig für diese Art zu denken. Man braucht schon extremes Selbstbewusstsein, um anderen Menschen zu erklären, wie die sich fühlen. 

Niemand weiß, wie sich ein anderer Mensch fühlt! Punkt!

Ziemlich verrückt wird es dann, wenn sie dir als Patient vollständig absprechen, über dich selbst etwas zu wissen. Google fragen, wenn etwas nicht in Ordnung scheint, ist des Teufels.

Bei einer so komplexen Krankheit wie MS treibt diese Vorgehensweise durch Neurolog*innen wahrhaft skurrile Blüten. Ich möchte euch ein einfacheres Beispiel für kognitive Dissonanz in Praxen nennen.

Stell dir vor, du kuschelst nett mit deinem Partner auf dem Sofa und erfährst eher beiläufig: „Übrigens, ich habe eine Mandelentzündung, Schatz!“

What?

Nun ist es nicht hochmedizinisches Spezialwissen, dass der Austausch von Speichel kombiniert mit Mandelentzündung eine weniger gute Idee ist. Solltest du zwei Tage später ebenfalls dicke Mandeln haben, lägst du nicht völlig falsch, wenn du auf einen kausalen Zusammenhang der Zungenküsse mit dem Mandelentzündungspartner und deinen dicken Mandeln schließen würdest.

Das musst du aber für dich behalten, wenn du einer Person im weißen Kittel gegenübersitzt! Niemals, never ever, darfst du beim Praxisbesuch versehentlich sagen, dass du möglicherweise eine Mandelentzündung hast. Du wirst es nicht bis zur Erklärung, warum, schaffen.

Dass, was Medizinierende einerseits zum Wissen über deine Gefühle beflügelt, schlägt in Unverständnis um, wenn du nach dem lecken an entzündeten Mandeln und einem dicken Hals auf entzündete Mandeln bei dir selbst tippst.

Das ist des Teufels, so wie googeln!

Das heißt für uns, die wir ja auf Ärzt*innen angewiesen sind, Folgendes. Sei diplomatisch! Nie Vermutungen anstellen! Nur wenn du wirklich geschickt bist, lege deinem Gegenüber einen Anhaltspunkt in den Mund! Aber immer so, dass die Diagnose nicht von dir kommen könnte. Selbst, wenn dir ein Baum auf den Kopf gefallen ist, lass die Ärzt*innen im Diagnosetriumph die Ursache aussprechen: „Na ja, wenn einem nen Baum auf den Kopf fällt, dann ist ein Hämatom …“

Sei erstaunt, wenn der geschulte Blick in den Rachen entzündete Mandeln zeigt, denn nur wenn Ärzt*innen mit eigenen Augen entzündete Mandeln sehen, hast du entzündete Mandeln. Willst du auch weiterhin stressfrei Termine wahrnehmen, verkneif dir: „Wusste ich’s doch!“ Oder „War ja klar!“

Und Leude, wir sind krank. Wir müssen damit leben. Ärzt*innen machen nur einen Job, bei dem sie Unmengen von uns täglich an der Backe haben. Was glaubt ihr, wie ihr denen auf den Sack geht und wie froh die sind, euch nach Feierabend nicht mehr am Kopp zu haben?

Richtig schlimm wird es, wenn sich Gazetten wie „Ärztezeitung“ einmischen. In der Vorbereitung auf den Podcast las ich einen Artikel aus dem Jahr 2016 in der BILD für Ärzte.

Der Titel lautete: „Auch Wissen allein kann krank machen!“ lautete der Titel. Merkt euch die Betonung auf „allein“.

Der Hammer ist das Beispiel für die These vom „Experten“.

Ein Krebskranker bricht zusammen, nachdem man ihm die Diagnose „Magenkrebs“ mitteilte! Dieser Patient wollte nicht vom Arzt belogen werden, er bestand auf einer Diagnose. Er grämte sich und war frustriert. Nun entschloss sich der Arzt, dem Patienten zu erzählen, er habe sich geirrt. Der Krebskranke war überglücklich, aber trotzdem todkrank. Er lebte noch drei Monate und schrieb „Der Schimmelreiter“ zu Ende, denn es handelte sich um Theodor Storm. Der Experte nennt immer dieses Beispiel, wenn er Vorträge hält.

Leude! 

Nun weiß ich, dass Professor Fritz von Weizsäcker Storms Schimmelreiter toll fand und es sich für ihn lohnt, Patienten anzulügen, wenn der noch was Wichtiges für die deutsche Literatur zu tun hat. Und das wusste der Arzt von Storm schon vorher.

„Wissen allein…“ war der Aufmacher! Äh, what?

Storm ist an Magenkrebs gestorben!

Und woher wissen die Experten, dass er den Schimmelreiter nicht trotzdem beendet hätte? Woher wissen die, dass er, ohne angelogen worden zu sein, früher gestorben wäre?

Woher wissen die, dass er sich nicht schnell von der depressiven Verstimmung auch ohne Lüge erholt hätte?

Das war Beschiss zum Wohle der Literatur. Ist doch nur ein Beispiel, könnte eine Ausrede lauten. Stimmt, ein total beschissenes und auch noch falsches Beispiel leitet einen Fachvortrag ein, über den die Ärztezeitung berichtet.

Ich weiß nicht, wie ihr es seht, aber Magenkrebs scheint Strom so krank gemacht zu haben, dass er starb. Man braucht schon viel kognitive Dissonanz, um daraus abzuleiten, dass Ärzte zur Lüge aufgefordert sind.

Ich habe extra nachgelesen, ob man sich diese Story nicht einfach ausgedacht hat bei der Ärztezeitung. Aber sie ist tatsächlich überliefert! Ich habe mich wirklich bemüht, herauszufinden, ob es einen Placebo-Storm gab, der am Placebo-Schimmelreiter schrieb, an Magenkrebs litt und statt nach drei, nach zwei Monaten starb. Den Pseudo-Schimmelreiter, das wissen wir heute, hat dieser Placebo-Storm jedenfalls nicht zu Ende geschrieben.

Nicht falsch verstehen! Die positive Wirkung des Glaubens an einen Therapieerfolg ist definitiv sowohl enorm wichtig als auch durch die Existenz des Placebo-Effekts bewiesen. Nur die Schlüsse, die die Ärztezeitung suggeriert, sind haltlos. Niemand weiß vorher, wie Patienten reagieren, wenn man sie belügt. Auch Angehörige glauben es nur zu wissen.
Dabei scheint von großer Bedeutung zu sein, was jemand tut, und wer es ist. Da ich wissenschaftlich in der Industrie gearbeitet habe, bekam ich einfach nur Fachvorträge von Ärzten ausgehändigt. Da hörte es mit der Gewissheit schlagartig auf, als klar war, was ich beruflich tat.

Das hilft wenig. Ich weiß, dass es keine Gewissheiten gibt in der Medizin, aber ich möchte weder verarscht noch allein gelassen werden. Diesen Spagat muss jeder Arzt und jede Ärztin individuell machen. Ehrlichkeit im eigenen Nichtwissen war mir immer am Liebsten. Lüge ist ein richtig beschissenes Placebo. Wenn sie auffliegt, wird es ganz übel.

Daraus eine Verantwortung zur Notlüge zu konstruieren ist lediglich „Ärztezeitung“. Das repräsentiert hoffentlich keine allgemeine medizinische Richtlinie oder auch nur Vorgehensweise. Man kann nicht Patient*innen absprechen, sich über Symptome schlau zu machen, und gleichzeitig behaupten, man wisse, was Patient*innen fühlen. In der Kombination zeigt sich die Gefahr von kognitiver Dissonanz, von der sich niemand richtig frei machen kann. Medizin kann keine Naturwissenschaft sein, und wir dürfen nicht die Maßstäbe von Physik und Logik anlegen.

Aber wir Patient*innen können erwarten, dass die Behandelnden immer im Kopf behalten, was sie für eine Verantwortung tragen. Wer das nicht will, ist falsch im Job!

Liebe Medizinstudierende! Gehirn einschalten beim Lesen von Branchenzeitschriften!

iEuer Ingenieur

https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Auch-Wissen-allein-kann-krank-machen-294796.html

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