Folge 3/7: Friss oder stirb

Hallo Leude!

Als ich gerade darüber nachdachte, wie ich euch erklären soll, warum ich mal sehr erfolgreich darin war, Hilfsmittel aller Art von der gesetzlichen Krankenkasse bewilligt zu bekommen, fiel mir wieder mein Firmenexperiment zum „Netzwerken“ – wie man es heutzutage nennt – ein.

Ich habe sogar ein Sesselliegedreirad als Therapiehilfsmittel bezahlt bekommen.

Wie ungerecht ist es dann, dass Edda – wie viele andere – wochenlang nicht aus der Wohnung kommt, weil ein Sanitätshaus nicht mehr in der Lage oder Willens ist, eine einfache Halterung zum Transport eines Rollators an ihrem neuen Scooter anzubringen? Gesunde könnten die verkorkste Halterungsalternative des Werkstattpersonals natürlich benutzen. Die brauchen aber auch weder Scooter noch Rollator.

Da fragt sich ja, wer weiß denn eigentlich, was wir Betroffene benutzen können oder nicht? Wie funktioniert das? Sind es die Medizinierenden? Das glaubte ich vor vielen Monden, denn die tragen schließlich per Rezept die Verantwortung! Nein, das sind die letzten in der Kette, die irgendeinen Schimmer davon haben, was sie verordnen. Ja, da seid ihr geschockt!

Nicht böse sein Medizinierende, ihr lernt es weder im Studium noch gehört es zu eurem Aufgabengebiet. Für uns Betroffene, besonders Rookies, ist das zumindest nicht selbstverständlich. Vom Werkstattmeister eurer Autoreparaturwerkstatt erwartet ihr ja auch, dass der weiß, warum man Öl und nicht Wasser als Motorschmiermittel benutzt. Das ist schon komisch im Medizinbusiness. Dann kommt erschwerend hinzu, dass Medizinierende zwar etwas verschreiben müssen, die Kassen das aber nicht bezahlen müssen.

Als ich erkrankte in der Steinzeit, war ich wirklich überrascht, dass Menschen etwas verordnen, von dem sie nicht wissen, was es ist, und ob wir es benutzen können. Das erschien mir völlig paradox! Da ich Querdenker im besten Sinne bin, machte ich in der Firma ein Experiment. Auch dort war mir nicht klar, wer was weiß. Reden tun natürlich alle über technische Dinge. Meetings waren mit Menschen besetzt, von denen ich nur wusste, dass einige ein vielfaches meines Gehalts am Monatsende auf ihrem Konto hatten. Wie ernst man Ideen, Vorschläge oder nur technische Wortmeldungen nehmen musste, war einzig von der Gehaltsklasse abhängig. Natürlich hatten die Anwesenden irgendwann man mal ein Diplom in einer technischen Disziplin erworben oder sogar wie Medizinierende einen Doktortitel. Mir warf man damals immer vor, ich könne nicht Netzwerken und sei nicht kompromissfähig. Das meint verklausuliert, dass man selbst dem idiotischsten Wortbeitrag Respekt zollen sollte. Das stimmte aber in meinem Fall nicht. Ich hatte nur Null Bock auf Netzwerken. Genauso wenig erbaulich fand ich das exakt gleiche Desaster in der Welt der Hilfsmittel. Wer kann schon wissen, dass man alles, wirklich alles selbst verstehen muss, um ein Hilfsmittel zu bekommen.

Ihr kennt das bestimmt, wenn es in der Firma mindestens eine Person auf euch abgesehen hat; aus einer höheren Sphäre. Mein Widersacher war mein Chef. Er war ebenfalls Diplomingenieur der Elektrotechnik. Allerdings die Art Ingenieur, die den Schwerpunkt auf das nebenbei erworbene BWL Studium legte. Für Karriereambitionen muss man Menschen managen. Möglichst viele!

Nun wurde ich quasi in jedem Meeting von meinem Chef vor seinen Chefs und dem Boss der Bosse vor den Kopf gestoßen. Das funktioniert exakt so, wie ihr das von Politikern in Talk Shows kennt. Antworten und Behauptungen sind gern soweit vom Thema entfernt, dass man kaum etwas entgegen halten kann, da das Gesagte bewusst nicht vorhersehbar ist. In Talk Shows kann jeder einfach drauf los plappern und wird nicht vom Talkmaster eingefangen. Das ist der einzige Unterschied zu den Meetings, in denen ich mich ungewollt befand. „Sie müssen lernen zu Netzwerken!“

Nun hatte ich als Chefentwickler das zweifelhafte Vergnügen, bei Meetings mit dem Boss der Bosse meine neuesten Ideen vorzustellen. Nach monatelanger Ausarbeitung, Laborversuchen, Vorstudien und Rohrkrepierern ging es im Meeting dann chefmäßig ganz schnell. „Tonne, das machen wir auch nicht, das hört sich gut an!“ Drei patentfähige Vorschläge mit Potential, für die ich Monate gearbeitet hatte, kamen in 15 Sekunden entweder ins Töpfchen oder ins Kröpfchen. Nun macht man sowas natürlich nur einmal mit, wenn man nicht mit dem Klammerbeutel gepudert wurde. Also macht man zwei beschissene Konzepte, die sogar Risikoinvestoren und CEO`s als solche entlarven und ein favorisiertes Projekt, das man selbst gern umsetzen will.

Ich hob für meine Behindertenkarriere diese Taktik auf eine neue Stufe, indem ich meinem Widersacher eine nicht funktionierende Superidee Wochen im Vorhinein zuspielen wollte. Ich baute darauf, dass er die Idee nicht entlarven konnte. Es ist übrigens nicht einfach, Unsinn zu erfinden und den so zu verpacken, dass ein anderer das nicht merkt. Ich war eine zeitlang besser darin, als was sinnvolles auszutüfteln. Die Stunde der Wahrheit sollte dann schlagen, wenn ich meine zwei richtig schlechten Vorschläge präsentierte.

Schwierig an der Operation war die Weitergabe der scheinbar tollen Idee. Ich konnte ihm ja nichts vorschlagen. Er lehnte logischerweise alles ab, was ich erzählte. Ich war der Dorn in seinem Auge, den er nicht kontrollierte, obwohl er theoretisch mein Chef war. Ich hatte damals eine wirklich coole Idee und noch drei Monate bis zur Uraufführung bei der Firmenspitze.

Ich entschied mich für stille Post. Leude, damals gab es kein Sozialmedia! Man konnte nicht Schwurbelblödsinn großflächig so einfach verbreiten. Man musste es unterschwellig mit viel Geschick unter die Leute bringen. Dazu nagelte ich mir eine Verteilungsmatrix aus Zeichenpapier an die Wand im Keller. Wer ist der Erste, dem man beiläufig in der Kantine, etwas erzählt? Das ist das A und O. Denn von da aus vernetzt sich eine Botschaft. Man muss weiterhin die Botschaft so simpel halten, dass sie nicht verfälscht werden kann, was ungeheuer kompliziert ist. Jede Sage verändert sich mit dem Verbreiter.

Meine Matrix füllte einen Quadratmeter Wandfläche, als ich 4 Wochen vor der Premiere, die Botschaft in der Kantine lancierte. Die 4 Wochen bis zum Finale waren mit die härtesten meines Berufslebens. Und ich konnte über einen langen Zeitraum nur noch mit „Captain Kirk“, meinem Supersollstuhl für ganz Kaputte arbeiten.

Ich mache es kurz. Es funktionierte! Mein Chef machte sich selbst vor den Bossen der Chefs zum Depp. Dabei stellte ich natürlich seine wunderbare Idee nicht in Abrede. Ich atmete einmal schwer. Schaute etwas verwirrt auf meine Unterlagen, sonst nichts. Man wird nicht einfach so Multimillionär. Der Boss der Bosse nahm meine fein eingestreuten, kaum sichtbaren Zweifel an der unglaublich tollen Idee sofort wahr.

„Und was halten Sie davon?“

Das war der Satz, auf den ich 3 Monate hingearbeitet hatte. Strike! Jetzt musste ich nur noch möglichst devot die Dummheit der Idee in den Kopf des Bosses pflanzen, so als sei sie wie selbstverständlich im selbst gekommen. Strike!

Ich war ihn los, für immer, meinen Chef!

Das habe ich dann konsequent mit Medizinierenden, Sachbearbeitern, technischen Beauftragten, Anwälten und dem Verantwortlichen meiner GKV in Ostwestfalen gemacht. Mein Boss der Bosse fand mein Projekt so cool, dass er mir bezahlt die Freiheit lies, mein Gesundheitsprojekt während der Arbeitszeit umzusetzen. Für ihn sprang dabei der komplette behindertengerechte Umbau der Firma rum, die die Rentenversicherung übernahm. Ich hatte technisch, was ja mein Job war, einige Entwicklungen für die Firma gemacht, die sich gut verkauften. Anerkennung bekam ich tatsächlich vom Boss der Bosse nur für mein Projekt, alle Hilfsmittel zu bekommen, die mir das Leben erleichterten. Er war begeistert. Er machte mich zur sakrosankten Person. Allen Chefs weltweit wurde mitgeteilt, für immer die Finger von mir zu lassen. Ich hatte freie Arbeitszeiten und konnte in die Firma und aus der Firma rollen, wann ich wollte. Ich durfte so noch zwei meiner Ideen zur Patentwürdigkeit bringen und niemand tastete mich mehr an, obwohl der Boss der Bosse schon lange in was Neues investierte und den Laden verkauft hatte.

Jetzt frage ich euch: „Wer hat die Möglichkeit so mit Behinderung und Krankheit umzugehen, obwohl es nur so wirklich erfolgreich funktioniert?“ Du musst wissen, wie ein Rollatorhalter funktionieren könnte. Du musst wissen, wie die Sachbearbeiter der GKV ticken. Du musst Schoko für die Praxis kaufen. Du musst den Sanitätshausfritzen entschlüsseln. Edda muss sowohl die rechtlichen Bedingungen, die medizinischen Voraussetzung und vor allem das Gehabe der einzelnen Akteure vom Medizinierenden bis zum Sachbearbeitenden vollumfänglich durchschauen, um einen Rollatorhalter an einen Scooter zu bekommen. Sorry, aber das war mal anders. Man konnte sich Verbündete schaffen, da es konkurrierende Sanitätshäuser gab. Das hat man im Zuge der Marktfreiheit abgeschafft.

Damals war mein Körper kaputt, aber mein Geist funktionierte sehr gut. Heute habe ich diese Fähigkeit verloren, dafür gehts dem Körper immer besser. Bei Edda läuft es gerade umgekehrt. Ich wüsste nicht, was besser ist. Man kann es sich jedenfalls nicht aussuchen.

Eines noch, wenn ihr glaubt, ich sei ein besonders toller Hecht, muss ich euch enttäuschen. Eine Leistung, die zu einem Erfolg führt, misst man an der Zeit, die man dafür braucht. Das ist Physik.

Leistung = Arbeit pro Zeit.

Mein Erfolg basiert auf einer allerhöchstens durchschnittlichen Leistung. Ich kenne Menschen die richtig, richtig gut sind. Und ich kenne Menschen mit tollen Titeln und großem Erfolg!

Manchmal hilft uns die Physik an Stellen, wo man es nicht vermuten würde.

Euer sakrosankter Ingenieur

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