Folge 2/23: Stadt Land Hirn

Hallo Leude!

Nach dem Podcastgespräch über die Probleme mit unserem Gedächtnis, der Mutter der Kognition, sind meine Gedanken der Zeit zugeflogen, als ich jung war und gerade erkrankt. In meinem Alter sind diese Gedanken häufig von Melancholie geprägt. Mir fiel spontan der erste Versuch meines Neurologen ein, mich zu beruhigen, als mir die Krankheit den Weg aufzeigte, den sie eingeschlagen wollte.

„Haben Sie keine Angst! Bei MS verblödet man nicht!“

Wenn das kein Statement ist, Leude!

Ich glaubte damals, dass Medizinierende, die eine Zeitung namens „Der Nervenarzt“ haben, die dem BILD Konzern entspringt, schon etwas mit dem Brägen, also dem Gehirn, zutun haben. Das gefiel mir nicht! Dabei wusste ich noch nicht, dass Gehirne eher nebensächlich für große Gedanken da sind. Nervenärzte, damals begegnete ich nicht einer einzigen Nervenärztin im Business, kümmern sich um die niederen, gleichwohl wichtigen Aufgaben des Gehirns. Es gab also eine Arbeitsteilung, die bis heute Bestand hat. Das gleiche Organ „Gehirn“ samt Nervensystemen wird einerseits als körperlich funktional betrachtet und andererseits als geistig funktional.

Dafür, dass die rudimentären Tätigkeiten des menschlichen Lebens fehlerfrei ablaufen, sind Neurologen zuständig. Dabei habe ich nie vergessen, dass der überwiegende Teil menschlicher Bewegung und Wahrnehmung bewusst funktioniert. Urinieren gehen, mit den Fingern ein Brot schmieren und einen Faden durch ein Nadelöhr fiedeln ist neurologisch.

Der Wille, diese Dinge zutun ist demnach psychologisch. Im Auto lachen, wenn du jemanden angefahren hast, gehörte in die Kategorie Krankheit für Psychiater; Irrenärzte. Gut, es war schon immer von Nutzen, die zweite Eigenschaft des Gehirns, das Denken, mit einzubeziehen in die Tätigkeiten des alltäglichen Lebens, aber ohne Körpersteuerung läuft im wahrsten Sinne des Wortes nichts; außer man läuft aus.

Ich dachte damals tatsächlich, „Nervenarzt‘“ sei die deutsche Niedlichkeitsform für Psychiater. Das meine ich ernst! Wisst ihr, was das mit euch macht, wenn dich dann der Nervenarzt damit beruhigt, dass ihr nicht verblödet? Genau! Er sticht ins Wespennest.

Immerhin war meine Vorstellung von „Nervenarzt“ durch den Film „Einer flog übers Kuckucksnest“ nachhaltig beeinflusst worden. Man konnte auch ohne Internet damals herausfinden, dass die Oskar prämierte Darstellung der Irrenanstalten in Amerika niemals so abgründig gewesen ist, wie die viel schlimmere Realität tatsächlich war.

Falls ihr den amerikanischen Kinofilm aus den 70ern nicht kennt, Oberschwester Ratched, fantastisch von der bereits verstorbenen Louise Fletcher gespielt, war die Reinkarnation einer Krankenschwester aus der Hölle. Sie hatte in dem Film die Oberaufsicht über eine Gruppe Patienten in einer geschlossenen Anstalt. In diese geschlossene Anstalt hatte sich der Hauptdarsteller Jack Nicholson hineingeschmuggelt, um dem Knast zu entgehen. Was dann passiert, solltet ihr irgendwann einmal schauen, denn der gesamte Film hat alle seine fünf Oskars wahrhaft verdient.

Also saß ich beim Nervenarzt und wurde von der medizinischen Fachangestellten hereingebeten, die zwar kein Schwesternhäubchen trug, aber … Damals nannte mein Nervenarzt die medizinischen Fachangestellten: „Meine Helferinnen!“ Heute tut er das sicher auch noch. Hey, das war und ist gruselig! Da kommen dir Bilder in den Kopf. Heutzutage könntest du kurz googeln. Damals war das richtig Arbeit. Als ich endlich wusste, dass Neurologen nicht für die geistige Normabweichung im Gehirn zuständig sind, war es zu spät. Es konnte doch nicht sein, dass ich eine Krankheit bekommen hatte, an der man verblöden kann! Hey! Überhaupt eine richtige Krankheit zu bekommen, die nicht einem Unfall geschuldet war, existierte in meinem Kopf nicht. Ich war jung. Was Hirnmäßiges?

Meine Diagnose bekam ich vor dem Auftritt des Niedergelassenen im Krankenhaus. Und ich hatte noch nie zuvor ein Krankenhaus von innen gesehen. Auf meiner Station gab es sogar eine Neurologin im Team, aber die war eigentlich Urologin, wie sie mir lächelnd erzählte. Was Medizinierende lustig finden, ist speziell. Der Krankenhausaufenthalt war für mich ein kurzer Besuch in einer Parallelwelt, von der ich definitiv nicht wissen wollte, was da alles abging. Das führte zum sogenannten Käseglockeneffekt. Und ich gestehe euch jetzt hier: „Mit der Einweisung auf Station 9, ganz oben unterm Dach, war ich nicht sicher, ob ich nicht doch in der Irrenanstalt gelandet war“.

Das Rauchen auf den Patientenzimmern war gerade ein paar Jahre vorher für Kassenpatient*innen abgeschafft worden. Aber nur im Zimmer. In den stationären Sitzecken wurde geraucht und abends Alkohol konsumiert. Das war wie in der Kneipe. Eine sehr nette Schwester sagte mir eines Abends, als ich meine Verwunderung über die kneipenartige Atmosphäre äußerte: „Hier bei uns auf der 9 wollen wir es euch so angenehm wie möglich machen. Es ist doch alles schon schlimm genug!“ Als sie das sagte, fuhr sie eine Frau im Rolli über den Gang, der versehentlich das Kontrastmittel bei einer Myographie ins Gehirn gelaufen war. Bei einer Myographie wird Kontrastmittel in den Nervenwasserkanal gespritzt und dann durch Röntgenstrahlen die Verteilung durch selbst die kleinsten Nervenverästelungen sichtbar gemacht. Das sah lustig aus. Ja, ich hatte auch ein paar Tage vorher eine Myographie genießen dürfen. MRT gab es kaum. Allerdings sagt Google, dass die Myographie durchaus noch heute ihre Berechtigung hat. In bestimmten Fällen! Fehler können immer passieren. Damit sich das Kontrastmittel gut durch das gesamte Liquorsystem verteilt, lag ich auf einer Art großem Cognacschwenker, festgeschnallt. Ganz wichtig war, so sagte es der Arzt im Bleianzug damals, dass das Kontrastmittel nicht ins Gehirn läuft. „Das ist nicht gut!“ Auch da war meines Erachtens Ironie nicht das beste Mittel, Vertrauen zu Patient*innen aufzubauen. Aber was weiß ich schon. Als sich der Tisch unter mir in alle Richtungen des Raums drehte, dachte ich nicht großartig über die Folgen nach. Was passieren könnte, ob der Mann im vollverbleiten Anzug Knöpfe verwechselte oder zu doll schunkelte, hatte ich nicht auf dem Schirm. 

Und die Fünfundzwanzigjährige, die die nette Schwester im Rolli schob, war ja auch in einer anderen Klinik fehlbehandelt worden. Das sollte mich beruhigen. Schon damals dachte ich: „Was sind das für Vögel hier? Die erzählen dir, Kontrastmittel im Gehirn ist wie Batteriesäure, aber es war ja ein Arzt einer anderen Klinik!“

Das „Ergebnis“ saß neben mir im Rolli und die Zigarette, die ihr die Schwester hinhielt, traf sie mit dem Mund nur sporadisch. Krank war sie vorher nicht gewesen, die fatale Myographie ergab, dass sie nichts hatte. Einen Tag vor Diagnoseverkündung schloss meine Oberschwester „Ratched“ die vergitterten Fenster ab. Damals konnte man Fenster in Kliniken noch öffnen; theoretisch.

Für diejenigen, die das Meisterwerk über die Machenschaften in den Irrenanstalten überall auf der Welt „Einer flog übers Kuckucksnest“ nicht mehr kennen, erkennt womöglich die Namensgleichheit mit der Netflixserie „Ratched“, die vor nicht allzu langer Zeit beim Streaminganbieter erschien. Schwester Ratched sieht mit ihrem Häubchen auf dem Kopf wohl nicht zufällig aus wie Louise Fletcher im Film mit Jack Nicholson. Kein Zufall, Leude, kein Zufall.

Erst an dem denkwürdigen Tag beim niedergelassenen Nervenarzt machte es Klick in meinem Kopf.

„Sie verblöden nicht!“ „MS tut nicht weh!“

„Wie, man kann sogar Schmerzen kriegen von MS?“

Ich hatte damals Taubheit! Das ist die Abwesenheit jeglicher Empfindungen. Mein Rücken war wie eingegipst und mein linkes Bein ein Holzbein. Ein kleiner Tipp an alle Medizinierenden: „Schaut kurz in die Akte, bevor ihr euren Patient*innen Geschichten erzählt!“

Wieso sollte dir jemand etwas von Schmerzen erzählen, wenn Schmerzen nicht auftreten können? Ok, ich bin Ingenieur! Ich habe manchmal ein zu großes Maß rationalen Denkens. Und ich war Entwickler. Als ich im Krankenhaus lag, hatte ich gerade eine unlösbare Entwicklungsaufgabe zugeteilt bekommen. Ich war Jungingenieur. Da kannst du den Geschäftsführern und Großverdienern nicht einfach sagen: „Geht nicht! Ist wie ‚Perpetuum mobile‘ Blödsinn!“ 

Nochmal! Wenn dir jemand unaufgefordert erzählt, was dir garantiert nicht passieren wird, wirst du doch skeptisch! Und Leude, das Wort „Irrenanstalt“ ist ein medizinisches Wort, das tatsächlich benutzt wurde. Daran möchte sich heute niemand mehr erinnern, es ist aber so gewesen. Meine Erstkontakte mit Neurologen ließen nicht vermuten, dass die sich von Irrenärzten unterscheiden. Jack Nicholson hat die berühmteste Lobotomie der Filmgeschichte bekommen. Lobotomien waren gerade abgeschafft, aber nicht wissenschaftlich widerlegt. Der Amerikaner Dr. Freeman hatte der Tochter der Kennedys Rosemarie mit dem Eispickel ins Gehirn geschlagen, um ihre Unzucht auszutreiben, wie viele im Internet vermuten. Der Arzt António Egas Moniz erhielt Jahre vorher 1949 für diese Methode den Medizinnobelpreis. Den hat der immer noch. Der wurde nicht postum aberkannt, wegen Scharlatanerie. Nennt mich pingelig, aber Lobotomie und Psychochirurgie gehörten in der Zeit, in der ich aufwuchs noch zum unwidersprochenen Teil der Medizin, obwohl man wusste, dass es Unsinn war. Positive Nachrichten in doppelter Verneinung sind auch immer noch fester Bestandteil der Medizin. Und Leude, sie lösen in mir noch das gleiche mulmige Gefühl aus wie vor 40 Jahren.

Mein Neurologe übte sich mir gegenüber gern in Ironie. Ich sage nur: „Ganz dünnes Eis“ für Medizinierende, „ganz dünnes Eis!“

In der Zeit damals im Krankenhaus las ich die Bücher, die meine Frau Manu noch aus dem Studium liegen hatte. Die Wahl der Literatur, in einer Zeit, in der mich bleibeschürzte Ärzte auf Monstertischen schwenkten und Lumbalpunktionen mit etwas, sagen wir, gröberem Gerät durchgeführt wurden, las ich „Fallstudien über Hysterie“ von Freud. Ja, ich weiß! Das war nicht schlau. Jedenfalls ist der große Österreicher, das Leuchtfeuer der Psychiatrie, einer der größten deutschsprachigen Denker, auch heute noch der bekannteste seiner Zunft. Wer jetzt auf Wikipedia nachliest, was da unter Hysterie steht, sei gewarnt. Tut es nicht! Hey! Der nonkonforme Geist der Frauen sitzt in der Gebärmutter und deshalb nannte man eine Krankheit Hysterie. Ein alter Grieche hielt die Gebärmutter für ein eigenständiges Wesen, das in der Frau umherirrt und Leben ausbrütet. Das mit dem Eispickel war zwar später, aber nicht minder irre.

MS ist die Krankheit der Frauen. Da darf ich mir jawohl Gedanken darüber machen, was Nervenärzte so alles verzapft haben über die Jahrhunderte. Und ich habe nicht einmal eine Gebärmutter.

Was Wissenschaft in der Medizin von Naturwissenschaften unterscheidet, wurde mir so klar, wie die Krankenhausbrühe heute wieder ist. Dann las ich auch noch, dass Freud bei Charcot gelernt hatte, einem weiteren sehr berühmteren Nervenarzt, der dazu beitrug, dass MS überhaupt eine Krankheit geworden ist. Allerdings entwickelte er auch den Eierstockquetscher, die Ovarienpresse.

Man kann auch Pech haben, wenn man krank wird und gleichzeitig von wissenschaftlichen Fakten tief traumatisiert. Als Krönung vom Ganzen hatten MRT zu dieser Zeit noch kaum Schallschutz, was meinen ersten Aufenthalt in einem MRT zur Horrorshow machten. Ich hatte im Podcast schon einmal erwähnt, dass ich in dem Film „Der Exorzist“ von Friedkin im Kino war. Ich bin alt. Auch dieser Film ist in die amerikanische Filmgeschichte eingegangen. Als Linda Blair, die damals kindliche Hauptdarstellerin in der Neurologie untersucht wurde, hatte Friedkin das erste MRT aus einem Forschungszentrum als Untersuchungsinstrument aus der realen Hölle gewählt. Da wussten die Kinobesuchenden allerdings schon, dass der Teufel die Ursache für grüne Kotze und für die drehenden Köpfe war.

Mein Freund sagt immer: „Du bist schon ein komischer Vogel!“ Mag so sein. Der Teufel hat mir keine Angst eingejagt im Exorzisten, aber die Jungs in den weißen Kitteln, die in diesem Film angsteinflößende Untersuchungen mit damals absurden technischen Hilfsmitteln durchführen, die machten mir richtig Angst. Niemals hätte ich vermutet, dass das Teil aus „Der Exorzist“ irgendwann das effektivste Diagnoseinstrument der modernen Medizin wird.

Das hat mich nachhaltig traumatisiert. Es sah nicht so aus, war aber ein Vorläufer heutiger MRT. Statt fest und unsichtbar um eine Röhre gebaut, wie es heute üblich ist, wirbelte es Linda Blair um den Kopf und war dabei unfassbar laut. Die noch heute bekannten Geräusche hämmerten so brutal in den Kinosaal, dass selbst der Teufel hätte Angst bekommen können. Was glaubt ihr, was das mit mir gemacht hat, als ich drin lag Jahre später? Und dann kommen Neurologen um die Ecke, die sich in Ironie üben.

Eine meiner ersten Aufgaben als junger Ingenieur war es, eine Art „Perpetuum mobile“ zu entwickeln. Du kannst natürlich dem Manager, der das Teil entwickelt haben will, nicht sagen: „Haha, das ist Schwachsinn!“ Ich bin also nicht selbst auf komische Gedanken gekommen wie Freud, Freeman oder Charcot! Sie taten aber ihr Bestes! Ich entwickelte einfach etwas, von dem die anderen nicht wussten, dass es keine Energie aus dem Nichts produziert. Für Politiker ist dieses Dilemma nicht einmal vorstellbar.

Ich wollte dem Fortschritt so gern glauben. Nennt es positives Denken. Tatsächlich muss ich gestehen, dass ich am meisten Angst davor hatte, meine kognitiven Fähigkeiten zu verlieren. Im alten Freud-Jargon gesprochen, irrezuwerden.

Das reichte aber nicht, um Vertrauen in Neurologen zu haben. Da muss schon was von der anderen Seite kommen. „Haben Sie keine Angst! Bei MS verblödet man nicht!“

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