Folge 3/1: Autsch!

Hallo Leude!

Meine zweitwichtigste Frage an meinen Neurologen Anfang der 90er: „Macht MS Schmerzen?“

Das war nicht aus der Luft gegriffen, denn ich hatte keinen Schimmer, was MS ist. Ich kann mit Fug und Recht von mir behaupten, dass ich mich damals im tiefen Tal der Unwissenheit befand. Meine Ersterfahrung mit MS war durch Taubheit und Lähmung im Rücken dominiert. Das tat nicht weh. Eher das Gegenteil, was ich immer noch beängstigend finde.

„Bei MS gibt es „eigentlich“ keine Schmerzsymptome!“, war die Antwort meines Neurologen.

„Aha!“

Der Gebrauch des Wortes „eigentlich“ sollte eigentlich in der Medizin nicht benutzt werden. Es leitet sich von Wahrheit ab, Eigenschaft. Mir fällt kaum ein deutsches Wort ein, das man ungeeigneter oder besser zur Verschleierung von etwas benutzt. Auf „eigentlich“ folgt „aber“. Und dann haben wir den Salat. Mein Neurologe benutzte es genau verkehrt herum. Natürlich ist es eine Eigenschaft, der MS Schmerzsymptome zu erzeugen. Es ist eine Nervenkrankheit. Ok! Wer doofe Fragen stellt … 

Hand auf´s Herz, wisst ihr was Medizinierende unter Schmerzen verstehen? „Es tut weh!“, denke ich. Schmerzen hatte nun wirklich jeder schon. Das fängt an, wenn du das erste Mal ungewollten Bodenkontakt im Babyalter hattest. Sobald es raus aus dem Babybettchen geht, beginnt die Schmerzerfahrung. Aber!

Schmerz ist laut Medizinierendendefinition: „Ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht oder einer solchen ähnelt.“ Das ist die Kurzfassung. In der langen Fassung kommen Schmerzzellen vor, die von überall im Körper irgendetwas senden. Nur bei uns senden die nix. Deshalb hast man den Passus eingebaut, dass es vergleichbar ist wie das, was Schmerzzellen senden, wenn das Gewebe geschädigt wird.

In den 90ern war das zwar Neurologen klar, aber man wollte es offensichtlich nicht so gern definieren. Da stand da nur irgendetwas von Schmerzrezeptoren und Gewebeschädigung.

Also! Schmerz ist per Definition das Signal von Schmerzneuronen an uns, dass etwas kaputt ist. Diese Schmerzneuronen sind überall im Körper verteilt, wie Sensoren beim Auto. Aber was passiert, wenn in der Schaltzentrale was schief läuft oder der Sensor nicht funktioniert? Nun, für meinen Neurologen passierte dann eben etwas, das er Missempfindung nannte.

Meine Missempfindungen tun teilweise höllisch weh. Für mich sind das Schmerzen. Leude, „unangenehmes Gefühlserlebnis“ können sich nur Menschen einfallen lassen, die es „positiv“ nennen, wenn sich zum Beispiel eine tödliche Krebsdiagnose klinisch bestätigt. Positiv ist in der Medizin, dass du die A-Karte hast. Gefühlserlebnis?

Bei meinem Unfall wurden Nerven im Bein schwer verletzt. Dafür sind dann auch Neurologisierende zuständig. Die sind in Kaputtes-Bein-Kliniken auf kaputte Nerven spezialisiert, die von Autos erwischt werden. Mit Krankheiten haben dies nicht am Hut.

Neurologin: „Ihre zerstörten Nerven können „eigentlich“ wieder zusammenwachsen! Aber erzählen Sie mir mal was über MS.“

Und da war es wieder das „eigentlich“. Dieses Mal aber richtig benutzt.

Ich: „Aha. Wie lange dauert das denn?“

Neurologin: „Das kann man nicht sagen! MS ist wirklich ne interessante Erkrankung.“

Ich: „Aha! Kann das sein, dass das gar nix mehr wird?“

Neurologin: „Wir sollten nicht so negativ denken!“

Ich: „Aha!“

Mein niedergelassener Neurologe sagte zu mir nach vier Jahren: „Unglaublich, auf Sie hätte ich keinen Pfifferling gegeben. Sie kriechen aber aus jedem Loch wieder raus, haha! Und wie halten Sie die Schmerzen aus?“

Mit starken Opioiden und extrastarken Antipressiva, die er mir selbst verordnet hatte, war es ganz ok. Er wurde quasi übergangslos zu meinem Ex-Neurologen. Medizinierende sollten nicht witzig sein wollen. Ist nur meine Meinung!

Egal, von welcher Schmerzklinik man eine Internetseite besucht, eines haben alle gemein. Schmerzen sollten nur die beurteilen, die die Schmerzen haben und sonst niemand. Dafür gibt es Schmerzfragebögen. Wenn es weh tut, tut es weh. Punkt. Meine Erfahrung mit Medizinierenden ist, dass sie sich mit diesem sehr einfachen Fakt „Mein Schmerz, mein Leid“ nur schwer anfreunden können.

Neurologe: „Das kann aber „eigentlich“ nicht weh tun!“

Zahnarzt: „Wenn ich jetzt bohre, tut es nicht weh!“

Sie können es einfach nicht sein lassen. Wie ein Reflex bricht es aus ihnen heraus. Dann denke ich immer, ihr habt doch selber schon Schmerzen gehabt! Leude, stellt euch die Medizinierenden vor, wenn sie von Kollegen so einen Spruch reingereicht bekommen. Ok, ich denke, das trauen sie sich nur bei uns. Wenn Ärzt*innen mit dir sprechen, und wissen, dass du Ahnung hast, werden sie auch etwas vorsichtiger.

Das waren andere Zeiten damals in den 90ern. Kein Internet, kein SozialMedia. Ich hatte mal schwarzweiß einen an Krücken über einen Röhrenfernsehbildschirm humpeln sehen. Und da drunter ein Spendenaufruf vom DMSG.

Lasst euch nicht eure Schmerzen erklären. Die sind, wie sie sind. Schmerzen werden komplett individuell wahrgenommen und sind nur bei ein und derselben Person vergleichbar. Es gibt keinen Vergleichsmaßstab für unterschiedliche Menschen. Es gibt auch keine Messung für eine feste Schmerzhöhe. Wie auch?

Trotzdem sind Einordnungen wichtig. Wie sehr beeinflussen Schmerzen unser Wohlsein? Kannst du sie aushalten? Ob deine Schmerzen irgendwer anderes erträgt, ist irrelevant.

Wenn du MS-Schmerzen im Bein hast, hat dein Bein sicher keinen „Gewebeschaden“. Und dem ähnlich ist es auch nicht. Für mich wäre es manchmal besser, nicht nachzulesen, wie eine medizinische Definition wirklich lautet. Aber ich bin chronisch neugierig. Ich war praktizierender Ingenieur. Ingenieure möchten einfach wissen, wie etwas funktioniert. Wenn etwas so kompliziert ist, dass ich es nicht verstehe, ist das überhaupt kein Problem. Aber willkürlich ausgedachte Erklärungen sind einfach nicht mein Ding. 

Kommen wir nun nochmal zum Anfang. Macht MS Schmerzen? Ja! Meine auf jeden Fall. Und frag nicht nach Blütenstaub. Allerdings habe ich immer viel Sport getrieben. Und das tut weh. Willst du auch nur die goldene Ananas ernten, musst du Schmerzen überwinden. Schmerzen überwinden, ist quasi die Basisübung im Sport. Schmerzverzehrte Gesichter dienen zur Werbung für Waschbrettbauchkörper.

Es gibt also auch gute Schmerzen! Aber nur, wenn man was tolles geleistet hat damit oder toller aussieht. Bei neurologischen Krankheiten, ja Krankheiten allgemein, ist es dummerweise umgekehrt. Man sieht unter Schmerzen immer beschissener aus und die Leistungsfähigkeit tendiert gegen Null.

Diesen eklatanten Unterschied von Schmerzempfinden macht unsere Psyche. Schmerzen und schöner Mensch mit Bodybuilder-Anflügen werden, ist suuupi. Schmerzen und ein nasser Lappen werden, ist nicht so toll. Die Antwort auf dieses Problem ist einfach und schon immer gleich gewesen. „Du musst kämpfen!“ „Du musst dich anstrengen!“ Falls man dann trotz Kampf das Zeitliche segnet, sagen sie über dich: „Sie hat den langen Kampf verloren! Er kämpfte bis zum Schluss!“ In der Politik wird auch gern die Kriegs-Rethorik bemüht.

Bei mir – als Nachkriegskind – funktionierte das blendend. Sport machte ich ab dem 5tem Lebensjahr und hatte mit 6 den ersten Jochbeinbruch beim Salto-Versuch. Als dann nur noch Schmerzen übrig blieben, nachdem die MS ihre hässliche Fratze nicht mehr verbarg, brauchte ich Jahre, um mich vom Sport in seiner medial angepriesenen Form zu verabschieden.

Antrainierte Verhaltensweisen blieben. Aber ich lies mich irgendwann auf Schmerzmedis ein, Opiate. Da die Zeit völlig vorbei ist, da Medizinierende ihre Patienten ein Leben lang begleiten, hatte ich immer im Hinterkopf, die Drogen selbst abzusetzen. Und es gelang. Die MS hat sich über die Jahre im MRT absolut gar nicht verändert. Kaputt ist kaputt. Interessanterweise habe ich auch ohne Medis nur noch geringe Schmerzen. Schmerzen sind eben etwas Persönliches. Man muss sie nicht lieben, wie Bodybuilder es tun, aber man darf sie nicht hart bekämpfen, dann schlagen sie zurück. Nur meine Meinung!

Euer Ingenieur!

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