
Hallo Leude!
Mir ist aufgefallen, dass ich noch kein Zitat zu Beginn einer Kolumne verwendet habe. Beim Thema Mut ist jetzt endlich soweit. Also hier mein Lieblingszitat zu Mut von T.S. Eliot:
„Nur wer riskiert, zu weit zu gehen, kann überhaupt herausfinden, wie weit er gehen kann.“
Nicht verwunderlich, dass das genau mein Ding ist, oder? Als ich erkrankte, waren sich alle Neurologen meiner kleinen Welt einig: „Du darfst auf keinen Fall an deine Grenzen kommen und niemals, niemals darfst du die Grenzen überschreiten. Nur hinlegen und absolut nichts tun hilft.“
Ehrlich, Leude, wenn man jemanden fragt, was man tun kann, egal zu welchem Thema, kann man tausend unsinnige Ratschläge bekommen. Aber wer zum Teufel rät dir denn, nichts zu tun, absolut nichts? Neurologen taten das.
Kein Wunder, dass man Mut braucht, um diesem Rat nicht zu folgen. Es ist viel einfacher, wenn man Tatenlosigkeit und Rumliegen von echten Experten empfohlen bekommt. Heute ist das natürlich zum größten Teil Wissen aus der Mottenkiste der Neurologie.
Am Besten finde ich immer Medizinierende, die so tun, als wären die Kollegen die, die das empfahlen
Medizinische Neandertaler gewesen. Dann denke ich: „Hallo, die praktizieren noch, können sich nur nicht mehr erinnern.“ So war eben der Stand der medizinischen Kunst! Darunter verstehen sie die Richtlinie, die irgendwelche … Na klar! Selbstdenken kann man als Patient nicht von Ärzt*innen erwarten. Wer kam eigentlich auf die Idee, den Begriff medizinische Kunst zu erfinden?
So, genug gelästert. Für mich haben die Ratschläge zur Lebensführung durch Medizinierende ein genauso großes Gewicht wie die von Tante Erna. Und Tante Erna kenne ich, sie kennt mich, meinen mich behandelnden Neurologen kenne ich, trotz fast dreißig Jahren Behandlungszeit, absolut gar nicht. Lebensweisheiten von irgendwem, der einen Titel hat, aber in einer anderen Welt lebt, können richtig sein, müssen sie aber nicht.
Ich war damals gefragt! Das war klar. Nur erzeugt eine unheilbar chronische Erkrankung wie MS Angst. Angst etwas falsch zu machen, Angst vor Verschlechterung. Angst selbst dafür verantwortlich zu sein, etwas schlimmer zu machen.
Als ich darüber nachdachte was Neurologen rieten, fragte ich mich, was mir wohl passieren würde, wenn ich diese imaginären Grenzen überschreite. Tot umfallen? Neue Löcher im Kopf provozieren? Das verrieten die mahnenden Neurologen natürlich nicht. Das wäre viel zu konkret. Da flüchtet man sich in den Konjunktiv. Und der ist bekanntlich noch gefährlicher als Fakten. Sie wollen dir keine Angst machen, sagen sie.
Die Abwesenheit von Bewegung ist Tod. Oder etwa nicht? Konsequent weitergedacht, sind wir also zur Bewegung verdammt. Unser Herz schlägt immer! Blut fließt immer. Nichts im Körper steht jemals still. Gründe, um sich selbst zu etwas zu motivieren, müssen doch nicht unbedingt stimmen. Es reicht, wenn sie uns motivieren, etwas zu tun. Und genau an diesem Punkt brauchst du Mut. Du hast schließlich niemanden, den du verantwortlich machen kannst, wenn deine Entscheidung schief geht. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir doch selbst, was zu tun ist. Dieses Gefühl, was in uns wohnt und uns, wenn wir zuhören, leitet. Ärzt*innen dienen abgesehen von Pillen verschreiben und Diagnosenstellung nur dazu, meine Angst überwinden zu lassen.
Wenn du schlechte Startbedingungen ins Leben hast wie ich, und du nachher doch erfolgreich bist, ist das aus meiner Sicht nichts, worauf ich Stolz sein muss. Es ist schlicht notwendig gewesen und bei anderen nicht. Punkt!
Für das Bewältigen von MS hat sich meine Einzelkämpfermentalität im Leben dennoch positiv ausgewirkt. Wenn du krank bist, musst du Mut beweisen! Tust du es nicht, gehst du im schlimmsten Fall vor die Hunde. Da hilft weder ein Lottogewinn noch der Zufall.
Als ich meinen Neurologen fragte: „Wie soll ich denn wissen, wo meine Grenze liegt?“, antwortete er: „Bleiben Sie einfach weit weg davon.“
Hier ein Beispiel aus meinem Erfahrungsfundus. 2012 begann ich im Motor unterstützten Einhorn auf drei Rädern zu trainieren, um die Insel Korsika zu umrunden. Das Ein- und Aussteigen war die größte Hürde. Meine Beine waren damals noch so taub, dass ich nicht merkte, wie stark ich trat oder ob ich überhaupt trat. Mein Puls entsprach dem eines Braunbärs im Winterschlaf. Ich fuhr also vor mich hin, während mein Freund irgendwann völlig aus der Puste anhielt und mich fragte, wie ich bei der Anstrengung fortwährend reden könnte. Zwei Kilometer weiter ereilte mich eine Fatigue Attacke, und ich kippte an der Kreuzung einfach rechts aus dem Rad.
Das hätte ich laut Neurologe ja vorher wissen müssen. Aber wie? Ich lag sabbernd neben meinem Dreirad und schaute den Ameisen beim Treiben um mich herum zu und dachte: „Die wollen mich doch nicht wegschaffen!“ Nach einigen Minuten hob mich mein Freund ins Rad. Er wusste, dass man jemanden in diesem Zustand liegen lässt und sich ne Pause gönnt, statt unnötige Spastiken durch herumzerren auszulösen. Es war sicher ein besonderes Bild. Der eine schaut in seine Fahrrad-App, der daneben liegt komatös mit dem Gesicht auf dem Boden.
Viel später, nach mehreren Expeditionen in das Reich der Ameisen, erkannte ich endlich die Warnzeichen. Ich bekam eine ganz leichte Gänsehaut auf Armen und Beinen. Das war mein einziges Zeichen für Anstrengung. Kein Gefühl in den Muskeln, viel zu niedriger Puls. Das soll mir mal ein Neurologierender erklären, wie man daraus eine Grenze extrapoliert. Ich brauchte eigentlich nur den Mut auf dem Boden liegen zu bleiben. Für das Rad fahren nicht.
Solch wirklich dumme Ratschläge haben mir auch sehr geholfen. Es hat mein Selbstbewusstsein sehr gesteigert. Denn wenn schon die intellektuelle Elite so einen Unsinn von sich gibt, konnte ich eigentlich nichts schlimmer verbocken.
„Nur wer riskiert, zu weit zu gehen, kann überhaupt herausfinden, wie weit er gehen kann.“
So einfach und doch so weise ist dieser Satz von Eliot. Für einen Pragmatiker wie mich ist er wie geschaffen. Du musst deinen Gegner kennen, du musst deinen Körper kennen und verstehen, und niemand kann dir sagen, wo deine Grenzen sind.
Heutzutage wird in der Werbung der Mut ins Gegenteil verkehrt. Mut zur Anlage an der Börse! He, das ist das Gegenteil von selbst etwas mutig in die Hand nehmen. Du gibst dein Geld Typen, die damit zocken. Da hast du nichts in der eigenen Hand. Das ist nicht aktiv sondern passiv. Wenn du reich bist, gewinnst du da immer, wenn du nicht reich bist, brauchst du Glück. Auf Glück vertrauen, wenn man eine Krankheit bekommen hat, die so selten wie ein Blitzeinschlag im Schädel ist, erscheint mir nicht schlau.
„Bei dir hat aber doch ein Medi gewirkt?“
Ja! Nachdem ich 15 Jahre Medis hatte, die nichts gestoppt haben. Das ist nicht Glück sondern ne ziemlich beschissene Statistik.
Meinen Mut habe ich nie verloren. Denn das ist das, was ich habe, und ich kenne mich. Medizinierende sind seit vielen, vielen Jahren nur zur Erörterung medizinischer Zusammenhänge für mich gut. Seit ich das selbst alles gelesen habe, war ich bei gar keinem Neurologen mehr. Allerdings war ich immer mal bei meiner Hausärztin, die kennt und schätzt mich, und ich schätzte sie auch sehr.
Seid mutig! Dann müsst ihr euch höchstens über euch selbst ärgern, aber nicht über andere.
Euer Ingenieur