
Resumé oder Zwischenfazit. Wenn man eine zwischenzeitliche Abrechnung macht, steht das große Ziel noch aus, und man möchte wissen, wie weit man ist, wo man steht. Bei Sparplänen für Großprojekte, wie dem Erwerb eines Hauses, löst das Abrufen der Spardaten nach Jahren der Entbehrung meistens Glücksgefühle aus. Jedenfalls tut es das, wenn der Plan funktioniert. Genauso frustrierend ist es, nach einem Jahr auf den Kontostand zu schauen. Am Besten beachtest du deinen Sparplan gar nicht, denn „das Warten“ ist der Endgegner.
Warten ist in meinen Genen nicht verankert. Ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand gern auf etwas wartet. Warten bedeutet, untätig vollständig von einer anderen Person abhängig zu sein. Dabei ist der Person, auf die man wartet, außerhalb bekanntschaftlicher Verhältnisse oder Freundschaft, in der Regel völlig egal. Das machte das Warten noch härter für mich. Für niedergelassene Ärzt:innen gibt es überhaupt keinen Grund, unser Warten abzuschaffen. Du kannst innerhalb von Sekunden mit deinem Handy eine fehlende Lieferung eines Artikels bei deinem Gelddienstleister anzeigen und das Geld zurückholen. Bei Ärzt:innen sollst du mittlerweile für einen zu spät oder nicht angetretenen Termin regresspflichtig gemacht werden. Das drohte mir mein Zahnarzt an, obwohl ich einen Krankheitsschub hatte. Das zeigt die Machtverhältnisse und wer auf wen angewiesen ist. Arzt:innen müssen sich gar nicht für ihre zu behandelnde Ressource interessieren, da es eine totale Abhängigkeit und einen Mangel auf der falschen Seite gibt.
Für mich war es immer wichtig, Zusammenhänge zu verstehen. Natürlich kann ich an diesem Tatbestand, auf Arzt:innen wie auf Sauerstoff komplett einseitig angewiesen zu sein, nichts ändern. Psychologisierende würden jetzt sagen: „Du darfst das nicht an dich ran lassen!“ Das geht aber nur, wenn mir mein Neuro am Allerwertesten vorbeigeht. Das wiederum ist schwierig. Ich wollte ja auch von meinem Neurologen in meinem Leiden sichtbar sein und emphatische Begleitung. Jetzt kann ich für mich konstatieren, dass mein total unemphatischer Neurologe genau der richtige Partner war. Er war mir völlig egal. Ich kannte nicht mal seinen Vornamen. Es war wie ein Besuch bei einem Roboter. Die Behandlung war gut, die Medikamentenwahl erfolgreich.
Was blieb war das „Warten“.
Immer wenn eine Dienstleistung an Menschen verrichtet wird, gibt es Bereiche zum Abstellen. Das ist nicht anders als bei Waren. Ursprünglich kamen Medizinierende allerdings nach Hause. 1876 eröffneten die ersten Ärztinnen eine Behandlungspraxis in Deutschland. Industrialisierung und medizinischer Fortschritt führten dazu, dass Menschen in Privatpraxen in Massen von Medizinierenden abgestellt wurden. Das war ein entscheidender Durchbruch in der Medizin, für Menschen, die sich bis heute keine Leibärzt:innen leisten können. Arm und krank ist aber bekanntlich auch deutlich ungünstiger als reich und krank.
Wartezimmer sind gleichsam die Räume, in denen man sich am sichersten mit irgendetwas anstecken kann. Seit mein Immunsystem nicht mehr vollständig in der Lage ist, die kleinen Besucher von außen abzuwehren, betrete ich Warteräume nur im absoluten Notfall.
Als erstes benannte ich den Raum, in dem ich abgestellt wurde zur Behandlung, um! Lesezimmer nannte ich ihn. Man glaubt es nicht, aber sowas funktioniert. Ein Trick meines Psychotherapeuten, der übrigens kein Wartezimmer hatte. Er hat Zeiten für die Kundschaft, die klappen müssen, sonst funktioniert Psychotherapie nicht. Dann braucht man kein Wartezimmer. Wer viel zu früh zum Termin kommt, ist selber Schuld. Bei Medizinierenden ist das anders. Die laden einfach so ein, wie es für sie am vorteilhaftesten ist, ohne die Bedürfnisse der Patient:innen zu berücksichtigen. Ist für sie am einfachsten.
Bei meinem Neurologen hatte ich eine Leseecke. Da passte mein Rollstuhl gut hin und diese Ecke befand sich nicht da, wo alle anderen warteten. Ich brachte dem zuarbeitenden Personal immer Pralinen mit oder andere Leckereien. Ein Tipp: „Willst du gut behandelt werden, behandle das Personal gut!“ Damit meine ich nicht die Ärzte:innen. Ob die überhaupt wissen, was außerhalb des Behandlungszimmers passiert, wage ich ernsthaft zu bezweifeln.
Wenn ich also in meiner Leseecke saß, tat ich etwas – nämlich lesen. Positive Verstärkung. Ich wurde so zum absoluten Lieblingspatienten des zuarbeitenden Personals. Was ein bisschen unangenehm wurde, war die Tatsache, dass das Personal ausgerechnet mir erzählte, wie belastend die Aggression der Wartenden für sie war, weil die ja warten mussten.
Später nahm ich mein Laptop mit. An meinem E-Rolli war ein abnehmbarer Miniarbeitsplatz mit Kaffeeecke installiert. Ich setzte mir Kopfhörer auf und arbeitete. Das signalisiert: „Ich habe keine Zeit für euch!“ In der Firma konnten sie immer gar nicht glauben, dass ich die meiste Zeit beim Arzt verbrachte. Eigentlich verbringt man auch kaum Zeit bei Ärzt:innen, man hockt irgendwo in der Nähe rum. Denn die meiste Zeit sitzt man eben nicht in der Behandlung. Es ist schon verrückt, dass Medizinierende ihre Kundschaft ewig vor ihren Behandlungsräumen abstellen und die das akzeptieren müssen. Es gibt keine Branche, die mit ihrer Kundschaft so despektierlich umgeht wie die Krankheitsbranche. Wer würde da auch freiwillig hingehen?
Diese Veränderung hin zum Warteprofi dauerte ganz schön lange. Selbst meine Ärzte fanden es toll, dass ich immer gut gelaunt war, selbst, wenn es mir richtig schlecht ging. Den Grund dafür, hätte keiner von ihnen auch nur im Ansatz verstanden. Sie interessierten mich Null, das war das Geheimnis.
Ich wendete im Umgang mit der Medizinbranche die italienische Methode an. Devot, freundlich, lobend und dann genau das rauskitzeln, was man will. Den Gegner nie das wahre Begehren wissen lassen. Ja, für mich waren Medizinierende immer zu schlagende Gegner. Wie beim Sport. Das wichtigste dabei ist, auszublenden, sie mit ihren menschlichen Macken zu betrachten. Fokussiere dich nur auf die Funktion deines Gegenübers. Das machen Ärzte:innen übrigens allermeisten auch so. Deshalb erkennen sie euch auch gar nicht wieder, wenn ihr nur etwas länger nicht mehr da ward. Das sehe ich heute positiv. Ich will ja keine neuen Freunde, wenn ich in eine Praxis gehe, sondern medizinische Hilfe. Am coolsten fand ich in der langen Karriere als chronisch Kranker den Chirurgen, der mein Bein sechs Stunden lang wieder zusammenschraubte. Den habe ich weder jemals gesehen noch kann ich irgendetwas über den sagen. Der Chefarzt hatte nach Aussage meines Orthopäden außergewöhnlich gute Arbeit geleistet. Dass das Bein immer noch wehtut, und dass es lange nicht zusammenwuchs, hat damit nichts zu tun. Repariert ist halt nicht neu und Medizin keine exakte Wissenschaft. Ich habe Glück gehabt. Und Chefärzte operieren auch Kassenpatienten.
Diese Distanz zu Ärzt:innen musste ich mir hart erarbeiten. Man möchte doch irgendwie verstanden werden und wertgeschätzt, beruhigt und aufgebaut. Das mag es in einer Vergangenheit mal im Medizinbusiness gegeben haben, aber ich entschied, dass es fatal sein kann, enttäuscht zu werden. Also begegnete ich allen mit maximaler Distanz, Skepsis und versuchte Hebel zu finden, sie mir maximal nutzbar zu machen. Da hilft es, sich nicht wartend, abgestellt zu fühlen.
Natürlich machte auch ich elementare Fehler. Zum Beispiel solltet ihr niemals die Medizinierenden wissen lassen, dass ihr Ahnung von dem habt, was mit euch gemacht wird. Das ist gefährlich. Hier spielen sehr große Egos eine Rolle. Also dünnes Eis, sehr dünnes Eis. Das ist aber in anderen Branchen nicht anders. Nur da wollen die Macher in der Regel nicht auch noch geliebt werden für ihre Arbeit. Das finde ich für einige Medizinierende, die ich kennenlernte, übrigens sehr schräg.
Macht es euch zu Nutze. Das ist unser einziger Hebel im Umgang mit Arzt:innen. Und natürlich gibt es auch total Nette. Ich bin ja auch nett.
Euer Ingenieur.