Hallo Leude!
Ich habe keine Ahnung, ob es heutzutage noch das legendäre „Interrail-Ticket“ zum Fahren mit der Bahn gibt. Ja, ok! Ich bin echt alt. Nur, wenn ich mich zum Reisen mit Handicap äußere, dann solltet ihr wissen, woher ich komme, wenn ich etwas sage. Was Reisen für mich einmal bedeutete, bevor ich auf Hilfe angewiesen war.
Reisen war schon immer die Krone der Freiheit in Deutschland. Waren die Menschen in den Sechzigern von Begeisterung geflasht, die Alpen auf noch nicht asphaltierten Straßen mit dem VW Käfer zu bewältigen, scheint die heutige Generation mit Flugzeug lediglich den Mond nicht bereisen zu können.
An sowas habe ich das erste Mal gedacht, als meine Töchter schon geboren waren und ganz profane Gründe den Campingurlaub verunmöglichten. Ich kam schlicht nicht mehr klar auf dem Campingplatz. Jedenfalls auf den Campingplätzen, die ich besuchte. Natürlich gab es in den 90ern auch schon Campingplätze, auf denen sich der gute Deutsche, der Zuhause den Rasen mit der Nagelschere pflegt, wohl fühlt. Nur das war nichts für uns.
„Interrail“ war damals das Gegenteil von dem, wie heute Bahnfahren ist. Das heißt, in Deutschland war alles schick und pünktlich, aber jenseits der Alpen, ob in Richtung Südwesten oder Südosten, lag man in Gepäcknetzen, schlief in Istanbul im Stehen ohne umzufallen oder in Cantanzaro und ersuchte, die Wände des maroden Wagens verzweifelt am Auseinanderdriften zu hindern.
Das konnte schon ein bisschen traumatisieren. Dazu musste man mindestens fünf unterschiedliche Währungen dabei haben, von denen mindestens zwei während der Reise die Hälfte des Wertes verloren.
Als ich meinen ersten Kompaktkleinwagen, den frisch aus der Taufe gehobenen Opel Corsa, mit den Campingutensilien für vier Wochen füllte, waren Fähigkeiten des Verstauens von Klüngel auf Promotionsniveau gefragt. Wie bekommst du den Haufen rechts, der doppelt so groß wie der Corsa links ist, in ihn hinein?
Es ging immer irgendwie. Den Brenner bezwang man in dieser Konstellation mit sagenhaften fünfundfünfzig Kilometern pro Stunde. Und ich besaß den Renn-Corsa mit 60 PS.
Nach diesen Reiseerfahrungen meiner Jugend könnte man meinen, ich wäre für das Reisen mit Handicap gewappnet gewesen! Aber weit gefehlt. In der kurzen Zeit, in der ich den Campingplatz im Sand, überrannt von Sandameisen, gegen Ferienwohnungen mit ner richtigen Dusche eingetauscht hatte, muss ich vollständig verweichlicht sein.
Jedenfalls unterschied sich das Reisen mit Rolli in der Bahn, über eine sagenhafte Entfernung von hundert Kilometern, in nichts von der Bahnfahrt per „Interrail“ durch den Kosovo nach Südgriechenland von 1983. Ich sage nur: traumatisch!
Leude, wenn ihr glaubt, ihr hättet schon einiges erlebt und wärt vorbereitet auf Reisen mit Handicap, seid gewarnt!
Das Dumme an dem Reisen mit Handicap war bei mir, dass ich zwar jung war, aber nicht so jung, wie bei den im Freien Übernachtungen auf irgendwelchen Bahnhöfen am Bosporus.
Das darf man nicht unterschätzen. Und wer heutzutage schon Abenteuerurlaub mit Spa in Thailand gemacht hat, und sich durch diese Tatsache für Dschungelcamp-fähig hält, wird möglicherweise eine Überraschung erleben.
Ihr wisst ja, wie wunderbar unser Gehirn, nennen wir es schwierige Reiseerfahrungen, verdrängen kann; ja, sogar vollständig löschen und durch das Ereignis einer wunderbar eingerichtete Ferienwohnung, in die man mit dem Taxi vom Flughafen gebracht wurde, ersetzt. Einzig der Fahrstil des mallorquinischen Fahrers, der schwere Turbulenzen im Bauchraum verursachte, ist nachher das große Thema, wenn man denn ein Haar in der Reisesuppe finden will.
Es hat sich sehr viel getan, sagt man über den Umgang mit gehandicapten Reisenden heutzutage mit Blick in die Vergangenheit. Da ist sicher etwas dran. Aus meiner Sicht kann ich nur sagen, dass ich blöderweise während dieser fiktiven Verbesserung kontinuierlich alterte, was in der Endabrechnung historisch nicht einmal zu einem Patt geführt hat.
Wenn du mit achtzehn begeistert in einem Gepäcknetz der Bahn ihm südöstlichsten Teil Europas wach wirst, ist das der Inbegriff von Urlaubserfahrung. Jedenfalls war es bei mir so.
Was ist eine Zumutung und was ist Abenteuer? Schlaue Menschen antworten auf diese Frage: „Das hängt vom Kontext ab!“
Und genau das ist das Problem, wenn man einen Zustand beurteilen soll. Jung und frei Europa per Bahn kennenlernen, war der Inbegriff von Freiheit. Das wollten alle machen!
Im Rollstuhl mit irgendeinem Beförderungsmittel unterwegs sein will niemand!
Genau das ist der unterschiedliche Kontext. Abhängigkeit ist das Gegenteil von Freiheit. Dennoch ist gerade der Rollstuhl unser Vehikel der Freiheit, wenn der nicht gerade von der Bahn nicht mitgenommen oder im Flieger verloren wird
Euer Ingenieur