Hallo Leude!
Augen sind die Fenster zur Welt, sagt man. Andere gucken dir durch deine Augen in die Seele. Das mit dem Fenster zur Welt ist nicht einmal metaphorisch für alle gleich. Edda sagte mir, ihr fiele beim Gucken auf den PC-Bildschirm eigentlich gar nicht auf, dass sie durch ihren Zoster in einem ihrer Augen quasi blind geworden ist. Und sie kann mit dem anderen, ein bisschen gesünderem Auge, nur so leidlich gut sehen. Wie kann das sein? Was steckt dahinter, das uns unser Sehen trotz widrigster Einschränkungen durch die Welt kommen lässt? Und wieso können wir trotz dieser Widrigkeiten Freude an dem haben, was wir sehen? Da muss mehr dran sein als die Abbildung durch ein Sinnesorgan. Die Emotionen, die beim Erleben der Umwelt entstanden sind, haben etwas mit Urlaubs-Udo gemacht, und Udo glaubte, er habe es auf Dia gebannt. Dias gab es vor der Handy-Zeit. Mit ihnen machten dich Urlaubs-Udos an sogenannten Diaabenden fertig. Zum Glück konnte man zu dieser Zeit nur einmal im Jahr Urlaub machen.
Wissen wir wirklich, was andere Menschen sehen?
Als ich innerhalb von wenigen Stunden nahezu erblindete, zweifelte ich daran, jemals das Wartezimmer der neurologischen Praxis richtig gesehen zu haben. Für Edda war der Prozess des Erblindens nicht so greifbar. Sie wachte morgens auf und sah nichts mehr. Dann bleibt dir nur noch die Erinnerung. Ich hingegen wohnte meiner eigenen Erblindung als Beobachter bei.
Hat euer Neurologe oder eure Neurologin auch Kunst in der Praxis hängen? Bilder?
Mir bekannte Neurologisierende hatten immer Bilder von Joan Miró an der Wand hängen! Das ist wohl ein Naturgesetz. Miró war ein berühmter surrealistischer Maler, der mit leuchtenden Farben malte. Ich bin Kunstbanause. Was da zu sehen sein sollte, erschloss sich mir nicht. Das ist erst richtig anstrengend, wenn man schlecht sieht. Sagen wir es so: „Die Bilder lassen der Fantasie Sehgeschädigter einen ungeahnt großen Spielraum!“
Ob Neurologen – ich benutze bewusst die männliche Form, da ich noch nie bei einer Neurologin war – ihre Patient*innen mit Augenproblemen in den Wahnsinn treiben wollen, bezweifle ich. Dass sie einen Schimmer haben, wie diese Bilder mit Diplopie – Doppeltsehen – im geschädigten Gehirn ankommen, kann ich bei aller Liebe nicht glauben. Da ich noch nie einen Arzt in seinem eigenen Wartezimmer gesehen habe, kann es nicht mit dem Wunsch, bei der Arbeit Kunstbilder zu sehen, zutun haben.
Dass alle Gehirnbastler von Berufs wegen, surreale Bilder mögen, lässt tief blicken. Psychologen und Psychiater tapezieren ausnahmslos die Wände der Praxen mit Mirós. Bei den Psychologisierenden leuchtet es mir ein. Miró malte Träume und war begeistert vom Unbewussten. Meine Psychologen waren von meinem Unbewussten wenig begeistert.
Mir verursachten die Bilder von Miró in meinem Kopf jedenfalls eher Albträume. Ehrlicherweise gestehe ich, dass ich nie einen aus der Nervenzunft gefragt habe, warum sie quasi in stiller Übereinkunft Miró zur Dekoration ausgewählt haben.
Ich saß also, nachdem mich meine Frau Manu mit sanfter Gewalt zu meinem niedergelassenen Neurologen geschleift hatte, nachdem ich nicht aus dem Schlafzimmer gefunden hatte, wieder vor dem Miró.
Und da geschah das Unglaubliche. Ganz langsam verlor das Bild vor mir seine Farbe. Das war sehr spooky. Plötzlich war ich nicht mehr sicher, ob das Bild nicht immer schon mit blassen Farben im Pastellton an der hässlichen grauen Wand gehangen hatte. Jetzt war ich im Surrealen angekommen.
Also fragte ich die junge Frau, die neben mir saß: „Entschuldigung, ist das Bild da“, ich zeigte mit dem Arm auf das verblassende Etwas gegenüber, „farblos?“
Die Reaktion könnt ihr euch ja vorstellen. Sie setzte sich auf einen anderen Platz. Mein Neurologe hatte „Das Lächeln der extravaganten Flügel“ im Wartezimmer hängen. Nun wusste ich, dass mich Manu zurecht in der Praxis abgeliefert hatte und bunte Bilder von Surrealisten bunt bleiben, selbst wenn ich schwarzweiß sehe.
Als ich aufgerufen wurde, war nicht nur die Farbe aus dem Bild gewichen, ich sah bereits digital. Allerdings nicht in Full HD 1920×1080 Pixel Auflösung, wie wir es mittlerweile gewöhnt sind, sondern in 120×78 Blöcken. Als ich ins Behandlungszimmer geführt werden musste, hatte mein Neurologe bereits die Kortisoninfusion scharf gestellt. Er fand beruhigende Worte für meine desolate Situation.
„Das ist eine fantastische Möglichkeit, die Wirkung von Kortison direkt in der Entstehung einer Läsion, quasi on time, zu beobachten. Herr Riepe, so etwas ist mir in meiner langjährigen Praxis mit MS Patienten noch nie gelungen. Sie sind der Erste. Das ist etwas ganz Besonderes.“
„Aha, ihm ist also etwas gelungen!“, dachte ich damals. Ärzt*innen sind nicht dafür bekannt, dass sie Symptom-Schilderungen von Patient*innen Glauben schenken. Allerdings vertraute mir mein Neurologe tatsächlich! Früher gab es nicht an jeder Milchkanne einen Magnetresonanztomographen, in den man zur Feststellung von Schäden geschickt werden konnte. Selbst heute dauert es oft viel zu lang, ein MRT machen zu lassen. Sehnerv-S chädigungen, so sagten es mir alle Medizinierenden, müssen sofort mit allen Mitteln bekämpft werden. Ein Mittel ist Kortison, der Allzweckreiniger der Neurologie.
Als der Butterfly in meine Armvene eindrang, war ich weniger zu Begeisterungsstürmen hingerissen als der punktierende Neurologe. Seine Begeisterung war nur schwer erträglich. Ein Schub, der im Wartezimmer, innerhalb kürzester Zeit das Augenlicht verschlingt, tritt ungefähr so selten auf, wie ein Sechser mit Zusatzzahl. Noch verrückter war die Tatsache, dass sich das ganze Spektakel rückwärts wiederholte. Meine Sehfähigkeit verbesserte sich, während zwei Gramm Kortison meinen Körper fluteten. In den Leitlinien zur Behandlung eines schweren Schubes wird empfohlen, innerhalb von vier bis sechs Wochen „schnell“ einzugreifen. Mein Neurologe ermahnte mich dazu, spätestens nach 24 Stunden zu kommen, wenn ich ein Symptom bemerkte.
Verrückt, wie sich Zeiten ändern können, wenn man sie in Richtlinien bannt. Was würde also heute in der Ambulanz passieren? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bekäme ich eine Überweisung in die Radiologie zum MRT. Ob dann jemand am Sehnerv eine Läsion erkennt, ist nicht ausgemacht. Allerdings treten häufig gleichzeitig an mehreren Stellen sogenannte Herde auf; wenn man Glück hat.
Leude! Nach vier Wochen würde ich mir den Gang zur Neurologie-Praxis aus Erfahrung schenken. Dann ist alles abgefrühstückt bei mir und irreparabel kaputt.
Was Neurologisierende als vollständige Remission bezeichnen, durfte ich nie erleben. Egal, ob mit oder ohne Kortison. Edda und ich haben einfach Pech gehabt. Pech ist ein gutes Unterscheidungsmerkmal bei MS, zerstört aber die Statistiken.
Die Wirkung des Kortisons an diesem denkwürdigen Tag war unfassbar gut. Aber natürlich konnte ich nie wieder so gucken wie vorher. Nach einer Stunde Infusion war ich im Sehvermögen schon bei einer Auflösung von 480×270 Pixeln und Pastellfarben angelangt. Das ist immerhin das Doppelte der beschissensten Auflösung aller Zeiten. Immerhin! Und ich bin sehr sicher, dass diese ungewöhnlich schnelle Intervention dazu geführt hatte, dass mir schlimmere Sehbeeinträchtigungen erspart geblieben sind. Ja, es hatte sofort etwas bewirkt. In weiteren drei Monaten erholte sich die Sehfähigkeit auf irgendwas. Ganz langsam änderte sich die Bildqualität im Stile der gesamten amerikanischen Filmgeschichte von Buster Keatons genialen „Der General“ bis „Deadpool und Wolverine“. Ich stehe auf Buster Keaton!
Euer Ingenieur