Folge 2/26: Euch kann man es aber auch nicht recht machen.

Hallo Leude!

Es ist wieder soweit. Ein Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Der schmuddelig dunkle November liegt hinter uns. Zeit zurückzuschauen. Für die eine Fraktion der chronisch kranken Menschen ist die Qual des Sommers endlich vorbei. Sie atmen auf. Für die anderen beginnt die Spastiksaison, weil sie die nun aufziehende Kälte nicht vertragen. „Also was denn nun? Euch kann man es aber auch gar nicht Recht machen!“, sagen sie.  Es wirkt ja auch irgendwie komisch. Eine Krankheit, und trotzdem zwei völlig unterschiedliche Begehrlichkeiten. Es ist nicht verwunderlich, dass die Normalen das nicht verstehen.

Nur, warum kommen wir selbst ins Grübeln? Und warum wünschen wir uns so sehnlichst verstanden zu werden? „Stelle ich mich an?“ „Meine Nachbarin hat ihre Zipperlein, wenn es feucht ist. Kenne ich! Dann tun die Knochen weh!“ Mal ganz davon abgesehen, dass Knochen keine Nervenzellen besitzen, ergo nicht weh tun können, haben 95% der Normalen einen Reflex, der uns unglaublich auf den Sack geht. Sie relativieren, sie sind selber auch mal unpässlich und sie kennen garantiert wen, dem es mindestens schlecht geht.

Diese Art des vergleichenden Small Talks auszuhalten, wird uns niemals ganz gelingen. „Aber sie hat es doch nur gut gemein!“ Na klar! Natürlich ist es gar nicht schlimm, jemanden mit Bullshit zu beleidigen, wenn man es gut meint. Sofort sind die Normalos plötzlich in der Opferrolle, weil sie es ja nur gut gemeint hatten. Jeder „normal“ denkende Mensch erkennt die Idiotie dieser Herangehensweise, die ganz normal ist. Ich meine nicht das Krankheitsbild „Idiotie“, das tatsächlich für die von mir gemeinte dumme Gedankenlosigkeit Pate stand. Idioten haben einen angeborene Intelligenzdefekt erheblichen Ausmaßes. Blödes Gerede ist eine Verniedlichung einer der schwersten geistigen Beeinträchtigungen, die jeden von uns treffen konnte. Zum Glück werden psychisch schwer beeinträchtigte Menschen nicht mehr Idioten genannt, was den Ausdruck mittlerweile komplett in die Umgangssprache überführt hat.

Aber auch das bestätigt nur, dass viele normale Gesunde selten darüber nachdenken, was sie beim Small Talk gerade zum Besten geben. Es beginnt mit der Eröffnungsfloskel „Na, wie gehts dir?“ Und endet mit guten Wünschen. Alles natürlich nur Small Talk.

Meine Generation, die Reste der Nachkriegsgeneration, haben eingebläut bekommen, dass sie Schuld tragen. Für was? Na für alles und jedes. Hart wie „Kruppstahl“ sollten wir sein. Da hat dich nicht zu berühren, wenn jemand dein chronisches Leiden mit seiner bei schlechtem Wetter aufflammenden Schmerzschulter nach Tennisunfall vergleicht. Wir hatten ja nichts, erzählten sie uns von der Wiege an. Habt ihr auch das komische Gefühl, dass diejenigen, die Menschen aus Stahl formen möchten, immer noch existieren, obwohl die allermeisten Originale lange die Radieschen von unten betrachten? Ich habe sogar noch ein lebendes Exemplar im Haus. Das ist mittlerweile 96. Vor 36 Jahren beschwor er sein frühes Ableben, weil sie ja damals nichts gehabt hatten und somit ein früher Tod unausweichlich gewesen sein sollte. Tja! Jetzt ist er weich wie einer dieser stinkenden runden Käse, die man nur mit uneingeschränkter Leidenschaft für von Mikroorganismen bevölkerten Milchprodukte genießen kann. Und er hat nicht mitgeschnitten, dass meine Lebensarbeitszeit als chronisch schwer Kranker lediglich ein Jahr kürzer war als seine. Was nicht sein kann, ist nicht!

Stell dich nicht so an! Wir hatten ja nichts. Wahrscheinlich behauptet diesen Unsinn meine Generation „Die Babyboomer“ mit der entsprechenden Gesinnung heute auch wieder gegenüber jüngeren Generationen. Bei der Arbeit aufopfern ist in der Politik heute genauso en vogue wie 1960. Nur die Generation X macht nicht richtig mit beim Aufopfern für Nüsse. Das finden Boomer gar nicht gut. Die hatten zwar was, aber die haben ja gearbeitet wie die „Idioten“.

Wenn dich Temperaturen im Sommer quasi vollständig lahm legen, musst du zum Henker niemandem Rechenschaft darüber ablegen. Sie wollen, dass du dich hinterfragst. Sie wollen, dass du glaubst, du machst nicht genug. Du könntest ja vielleicht, wenn… Genau! Eigentlich sind Kranke ja irgendwie selbst Schuld, oder? Darauf läuft es hinaus. Das ist der Kern von Small Talk. Es darf nicht sein, dass man unverschuldet krank wird. Die Bibeltreuen liegen bei dieser Schuldrethorik genauso weit vorn, wie die Generation meines Vaters, die von Nazis erzogen worden ist.

Man stelle sich vor, die Konservativen würden diese Rhetorik der 50er und 60er aufgeben. Was bliebe übrig? Nichts! Ah, Moment! Jetzt weihnachtet es sehr und Politiker sind auf Spendengalas. Man kann was gut machen zu Weihnachten. Die Hardcore-Konservativen machen das natürlich auch nur für eine Gegenleistung wie Wählerstimmen in Prozent. Und es müssen dickbäuchige Kinder, denen man das Verhungern hundertprozentig ansieht, gerettet werden. MS verändert übrigens weder die Hautfarbe noch macht es abgemagerte kleine Körper mit dicken Bäuchen. Da kommt man nicht zum Champagnersaufen vor Weihnachten für Wählerstimmen. Spastik sieht man nur, wenn man aus dem Rolli aussteigt. Ob man tatsächlich aus dem Rollstuhl in der Öffentlichkeit aufstehen sollte, muss gut überlegt sein. Denn kannst du aufstehen, zieht dir gleich der erste beobachtende Sachbearbeitende das Teil unterm Arsch weg und erklärt dich zum Simulierenden. Wenn du in dem Moment nur den Bruchteil einer Sekunde darüber nachdenkst, ob du auch ohne …, hast du verkackt! Sie haben dir die Schuld und das schlechte Gewissen immer und immer wieder erfolgreich eingeimpft. Das gute Deutsche in dir. Das kriegst du nicht weg. Es ist einer der übelsten Viren der deutschen Gesellschaft.

Mir hat mal ein sehr netter Chefarzt gesagt: „Wenn Sie sich Gedanken darüber machen, ob sie sich nicht doch ein bisschen anstellen mit Ihren Beschwerden, dann ist die Welt nicht mehr in Ordnung!“ Daran denke ich jetzt gerade vor Weihnachten zurück. Die Welt ist nicht in Ordnung. Wir können nicht gegen die zermürbende Hitze ankämpfen oder die Kälte, die die Beine in unbeugsames Holz verwandeln. Last euch das nicht einreden!

Nein! Wir müssen genau das Gegenteil von dem tun, was einen guten Deutschen ausmacht. Niemand kann nachempfinden, wie uns individuell eine unheilbare Krankheit auffrisst, uns fertig macht. Niemand! Rumheulen hilft da wahrlich auch nicht, aber sich in Frage stellen lassen von Leuten, die mal ein YouTube Video über MS gesehen haben, das dürfen wir nicht zulassen.

Natürlich gibt es immer jemanden, dem es viel schlechter geht. Ist so! Die Person, der es gerade in diesem Moment am schlechtesten geht, stirbt gerade jetzt und eine Mikrosekunde später stirbt die Person, die am zweitschlechtesten dran ist. Ich komme in dieser Rangordnung ganz, ganz weit hinten. Und auch wenn das Buhlen um den beschissensten Zustand bei nicht wenigen chronisch kranken Menschen Lebensinhalt ist, bin ich froh, dass es mir, warum auch immer, immer besser geht. Und da, liebe Leute, liege ich ganz weit vorn! Blöderweise steht am Ende die Normalität. Und die scheint mir in der heutigen Zeit von „Bauch, Beine, Po“ mal so gar nicht erstrebenswert. Wenn du Normalität toll findest, muss es dir Scheiße gehen! Ein untrüglicheres Zeichen gibt es in der heutigen Welt der sozialen Medienaufmerksamkeit nicht. 

Wenn man nur einen Tag von 1000 Menschen kräftig beleidigt wird im Netz, hat man Aufmerksamkeit. Clickbait nennt man es. Und darum gehts doch heutzutage. Aufmerksamkeit, egal, ob sie total doof ist, die wenigstens ein paar Tage anhält, ist nicht toll. Kopftremor gehört zu den absoluten Aufmerksamkeitserregern nicht Brazilian Buttlifting. Mit dem Buttlifting von Shirin David, ohne Shirin David zu sein, kassierst du am Ende mehr dumme Sprüche als Bewunderung. Und was wollt ihr euch umoperierten lassen, wenn das neue Styling langweilig geworden ist?

Normalität ist jedenfalls das langweiligste, was es überhaupt gibt. Trotzdem finden es alle normalen alten Bekannten, die mich treffen, phänomenal. Wahnsinn soll es sein.
Unfassbar diese Genesung. Ja, klar! Mit Kopftremor im Elektrorollstuhl gefüttert werden, ist richtig mies. Ich spreche aus eigener Erfahrung.

Wisst ihr, als das mit dem Kopf weniger wurde, ich kaum einen Schritt gehen konnte, mit großer Mühe selbst wieder Essen in die Futterluke verfrachten konnte, fand ich das den Hammer! Jetzt, so fast normal, bin ich ein bisschen enttäuscht. Normal ist halt nix besonderes.

Aber jetzt, da ich das Jahr resümiere, stelle ich fest, dass meine Normalität immer noch der absolute Hammer für mich ist. Was mir dann beim Small Talk alles unterkommt, kann ich mittlerweile mit einem tiefen inneren Lächeln einsortieren. Es landet direkt in der Schublade für Idioten und Idiotinnen. Das mag nicht fair sein. Damit kann ich aber gut leben.

Kommt gut rein!

Euer Ingenieur.

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