
Die Anzahl der Arbeitsfehltage wegen stressbedingter Erkrankungen wie Burnout, Depression und Angststörung haben sich in den letzten Jahren nahezu verdoppelt, glaubt man den einschlägigen Statistiken der Krankenkassen und der Studienlage.
Da wir alle offenbar so überlastet sind, sollen wir mehr arbeiten, geht es nach den Jungspunten der Konservativen, also Politiker unter 70, die darin keinen Widerspruch sehen.
Ich kann dieser Idee tatsächlich etwas abgewinnen. Habe ich doch nahezu 30 Jahre nach dem Leistungsprinzip gearbeitet, um mich von der chronischen MS abzulenken. Ich nannte es assoziatives Arbeiten. Man provoziert eine bewusste Ablenkung von der unwillkürlichen Belastung. Ob Linnemann das mit dem Wohlstand schaffen meint, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Eine der größten Herausforderungen während meines Arbeitslebens war es, die ständige Hektik im Beruf, also die Stressoren irgendwie klein zu bekommen. Die sorgen aus meiner Laiensicht dafür, dass die Häufigkeit psychischer Krankheiten derart explodierten in den vergangenen Jahren.
So lange ich durchs Leben torkele, wird es, so sagt man, immer hektischer. Was 1980 noch hektisch war, ist heutzutage Chillen. Es beginnt schon mit dem Arbeitsweg, der mit verstopften Autobahnen und Dauerstau gespickt ist. Sobald wir zum Stillstand kommen, drehen wir dann vollständig durch. Ein bekanntes Phänomen.
Ein Beispiel aus meinem neuen Leben als Radfahrender gibt Aufschluss. Wenn ich in der Zone 30 – Zone 30 bedeutet, man darf nur 30 fahren – 30 fahre mit dem Rad und hinter mir ist ein Auto …
Na, ihr wisst selbst, wie die Geschichte immer, aber auch wirklich immer ausgeht. Ehrlich, ich fahre auch schon mal schneller als 30 durch die Zone 30; mit dem Rad natürlich. Das ändert aber nichts aus der Sicht der Autofahrenden. Ich fahre ein Rad mit Antrieb, mit dem ich über 45km/h fahren kann! Interessanterweise spielt die Geschwindigkeit für Autofahrende keine Rolle.
Überfahren wurde ich dann vor 9 Jahren auch mit der sagenhaften Geschwindigkeit von 6km/h auf einer Kreuzung. Die hirnzugeeilten Polizisten beklagten dann, dass ich ja in meinem Therapierad wirklich schlecht zu sehen sei. Mein Freund auf seinem normalen Rad, der ebenfalls überrollt wurde, versetzte das in großes Staunen. Er flog 10m weit und landete mit dem Knie auf einer Bordsteinkante. Er ist 185cm groß und saß auf einem Rennrad Größe XL. Die Größe hatte er schon vor 9 Jahren in den Mittfünfzigern.
Geschwindigkeit wird offensichtlich nach Fahrgerät ganz unterschiedlich definiert. Radfahrende rasen neuerdings. Die gesamte Gesellschaft ist also immer schneller geworden.
Fast!
Während Unterschenkelamputierte mit Carbonprothesen in Zone 30 geblitzt werden könnten, so schnell können die rennen, gibt es eine Gruppe, die immer noch mit der selben Geschwindigkeit unterwegs ist wie 1896! Genau, es sind die Behindis in Rollstühlen. Für mich und alle anderen ist die Zeit quasi im 19en Jahrhundert stehengeblieben.
Ein verordneter Elektrorollstuhl hat eine vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 6km/h. Nur solch unfassbar langsamen Geräte werden von den Kassen bezahlt. Die Frage, die sich mir stellte, war folgende: „Gab es denn mal Rollstühle, die schneller waren?“
Ja NATÜRLICH! Meyra hat zum Beispiel einen Benzinmotor betriebenen Rollstuhl konstruiert, der sogar einen Beifahrenden transportieren konnte. In meiner ersten Reha, fuhr dann auch der Chefarzt hinten auf dem Rolli eines Patienten zum Spaß mit; ohne Helm. Das waren Zeiten! Das Ding ging richtig ab wie ein Motorrad!
Natürlich unterstützte die GKV schon damals ein solch lästerliches Gerät nicht. Spaß ist das letzte, was ein Hilfsmittel machen darf. Krankheit ist bah. Behinderung ist bah. Stellt euch vor, ihr könntet nicht an der unsäglichen Langsamkeit eines Fahrgerätes erkennen, dass ein Behindi drinsitzt. Das wäre völlig verrückt! Wer aufsteht aus dem Rolli, fällt möglicherweise den wöchentlichen Steinigungen aus „Das Leben des Brain“ zum Opfer. Davor muss uns der Staat schützen. Wer also aufsteht muss umgehend …
Aber Spaß beiseite, tatsächlich hat sich rechtlich durchgesetzt, dass nur eine Geschwindigkeit von 6km/h, was ungefähr, Gehgeschwindigkeit eines Normalen entspricht, kompensiert werden. Stehen tut sowas natürlich nirgends im SGB. Juristisch ist da nix definiert. Das Gleiche gilt für diese ominöse Teilhabe am öffentlichen Leben. Was soll das sein? Alle reden davon. Aber solange Juristen nicht definiert haben, was das sein könnte, existiert es nicht.
Als Dino habe ich gelernt, dass Recht und Gesetz feste Fundamente der Gesellschaft sein wollen. Ich wurde vor dem Sozialgericht eines besseren belehrt. Mir erschien das dort eher wie Komödienstadl. Nun war ich Naturwissenschaftler; Ingenieur. Da hat man eine völlig falsche Vorstellung von Gesetzen. Das musste ich schmerzhaft lernen. Jedenfalls vermeidet man innerhalb des SGB jegliche Definition von irgendwas; angeblich zum Nutzen derer, die auf das Sozialsystem angewiesen sind. So erklärte es mir mal ein Richter.
Ich bin froh, dass man diese Art der Gesetzlosigkeit für Physik nicht eingeschlagen hat. Dann wäre ich bei Diskussionen mit dem Vertrieb und den ganzen BWlern vollständig abgedreht.
Ein interessantes Argument für Regellosigkeit ist folgendes: „Wenn 6km/h die vorgeschriebene Geschwindigkeit ist, was ist dann mit 6,05 km/h?“ Juristen sind offenbar der Meinung, dass es in der Physik nur exakte Größen gibt. Das kommt davon, wenn man frühzeitig alle naturwissenschaftlichen Fächer ignoriert.
Ich verstehe die Argumente der Juristen aber sofort. Wer weiß schon, wie schnell Gehgeschwindigkeit ist? Heutzutage geht nahezu niemand mehr auch nur 100m zu Fuß. Selbst auf den Gehwegen rasen Elektroroller an uns vorbei. Mit atemberaubender Geschwindigkeit. Jedenfalls fühlt sich das so an, wenn du in deiner Sitzblockade namens Rolli hockst, und du meinst, wenn du den Hebel doller nach vorn drückst, ließe sich doch mehr rausholen aus dem Fahrgerät. Radfahrer rasen! Wahrscheinlich möchte man nicht noch rasende Rollstuhlfahrer, die den Autoverkehr stören durch ihre irren Geschwindigkeiten. Da wird sofort der Ruf nach Helmpflicht laut! Das hat mir tatsächlich mal ein progressiver Autofan als Argument genannt. Ich war versucht zu sagen, dass ich es mit den vielen Löchern im Schädel riskieren würde, 9km/h ohne Helm zu fahren.
Mein Rolli ist tatsächlich widerrechtlich getunt. Man muss nur in der Programmierung den Höchstwert hochstehen und Zack fährt das Ding 12. Ich hatte schon im Gespräch mit Edda an die Arbeitenden den Tipp herausgegeben, nicht die Krankenkasse als Bezahlträger für Hilfsmittel zu wählen. Das möchte ich nochmal bekräftigen. Wichtig ist, dass einem ein Hilfsmittel gehört! Dann begeht man beim Tuning nicht noch Sachbeschädigung. An dem Tag direkt vor unserem Podcast begegnete mir ein Rollstuhlfahrer auf der Landstraße. Er war so wahnsinnig langsam, dass ich kaum hinschauen konnte, als die Autos unten in der Kurve mit 100km/h auf ihn zu beschleunigten. Ich frage mich sowieso häufig, wieso so wenig passiert im Straßenverkehr. Als nur einmal Überfahrener denke ich, ich habe echt Glück gehabt, auf tausenden Kilometern nur einmal fast getötet worden zu sein.
Da kommt die Krankenkasse ihrem Versorgungsauftrag übrigens vollumfänglich nach, indem sie den meisten antragsteilenden den E-Rolli gleich vollständig verweigert. Zuhause kannst du nicht überfahren werden. In diesem Sinne!
Euer Ingenieur